30. Januar 2023
Von einer Stadt und einem Museum im Krieg und unbürokratischer Hilfe unter Kollegen
Im Nordosten der Ukraine liegt mit Charkiw die nach Kyjiw zweitgrößte Stadt des Landes – vor dem russischen Angriffskrieg eine funktionierende Stadt mit zahlreichen Universitäten, Hochschulen, Theatern, Museen und Betrieben wichtiger Industriezweige wie beispielsweise Maschinenbau oder Nahrungsmittelherstellung. Nicht im klassischen Sinne schön. Überall noch Sowjetcharme, viel Beton, wenig Grün, vor allem an den Rändern Armut. Zwischen 60 und 70 Prozent der Bevölkerung sind (oder waren) russischsprachig (auf Russisch heißt Charkiw Charkow).
Herz der Stadt ist der Freiheitsplatz. Am 1. März 2022 schlug hier am südlichen Ende eine russische Bombe ein und vernichtete den Sitz von Stadt- und Gebietsparlament. Am Ende des Platzes genau gegenüber befindet sich eine monumentale Demonstration des russischen Konstruktivismus: das Derschprom, größter Stahlbetonbau Europas, 1925 bis 1935 von den Architekten Sergej Serafimow (1878–1939), Mark Felger und dem Ingenieur Samuil Krawez (1891–1966) entworfen und das erste sowjetische Hochhaus – ein riesiger Komplex, 2018 angemeldet als Kandidat für die UNESCO-Welterbeliste.
Weitere Informationen zum Derschprom auf Wikipedia
Erneut und immer wieder greift Russland Großstädte in der Ukraine, darunter auch Charkiw, an. Ziele sind Wohngebiete und damit Zivilisten und bedeutende identitätsstiftende Gebäude sowie die zivile Infrastruktur. Dieser Angriffskrieg tötet Menschen und vernichtet Kulturdenkmale!
Viele engagierte Menschen blieben und bleiben bewusst in der Metropole, riskieren ihr Leben und versuchen immer wieder Denkmale, Kulturgüter und Kunstwerke zu schützen. Zu ihnen zählen unsere Kolleginnen und Kollegen des Kunstmuseums Charkiw, von deren Kampf um die Kunst wir heute berichten möchten.
Wir stellen vor:
Das Kunstmuseum Charkiw
… ist eines der berühmtesten Museen der Ukraine. Seine Sammlung ist eine der ältesten und wertvollsten Kunstsammlungen des Landes. Die Räumlichkeiten des Museums befinden sich im ehemaligen Palast des Ehrenbürgers von Charkiw, Iwan Egorowitsch Ignatischtschew (1859–?), Kaufmann und Besitzer einer Brauerei. Die Geschichte der einzigartigen Sammlung des Museums reicht bis ins Jahr 1805 zurück, als die Charkiwer Universität 2 477 grafische Werke westeuropäischer Meister als Lehrmittelsammlung für die Fakultät für Geschichte und Sprachen geschenkt bekam. Diese Sammlung umfasste Arbeiten berühmter Künstler des 16. bis 18. Jahrhunderts, darunter Werke von Albrecht Dürer, Luca Giordano, Pieter Brueghel dem Älteren, Anthonis van Dyck oder François Bouchers. Nachdem Mitte des 19. Jahrhunderts von Iwan E. Betski die Stiftung einer Sammlung von mehr als 500 Gemälden italienischer Maler hinzukam, wurde 1861 das Museum der bildenden Kunst und Antiquitäten eröffnet. Nach der Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) im Jahr 1922 wurden die Bestände wiederholt Opfer ideologischer Säuberungen. Dennoch wuchsen die Sammlungen bis um 1940 auf mehr als 75 000 Werke an und zählte das Museum zu den bedeutendsten in der Sowjetunion.
Weitere Informationen zum Kunstmuseum Charkiw auf Wikipedia
Nach dem Überfall des nationalsozialistischen Deutschlands auf Länder der UdSSR im Jahr 1941 begann neben einem grausamen Vernichtungskrieg und der Ermordung der Zivilbevölkerung auch die gezielte Beschlagnahmung und Vernichtung der Kultur des Landes. Das Kunstmuseum in Charkiw hatte vor dem Eintreffen der Deutschen nur 4 711 Werke, gut 6 % seines Gesamtbestands, nach Nowosibirsk in Sicherheit bringen können.
Bereits im Herbst 1941 wurde der Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg (ERR) in den besetzten Gebieten der Ukraine aktiv und beschlagnahmte vor allem Bücher und Archivalien für die Bibliothek des Instituts zur Erforschung der Judenfrage, einem der 11 Institute der Hohen Schule der NSDAP. Ein weiteres, das Institut für Religionswissenschaften, befand sich in Halle (Saale) und dessen Schauräume in der Moritzburg. Zentrale Sammel- und Bergungszentren wurden in Kyjiw, Charkiw und Cherson etabliert.
„Zwischen 1941 und 1942 wurden die meisten Museumsräume in den Großstädten, wie Kyïv, Charkiv, Dnipropetrovsʼk usw. ,sichergestellt‘ und für propagandistische Ausstellungen verwendet. Die Exponate sollten das ,germanisch-normannische‘ Erbe in den besetzten Ostgebieten und die Einflüsse der ,germanischen Kultur‘ auf ukrainischem Territorium darstellen. Solche Veranstaltungen waren überwiegend nur für deutsche Besucher zugänglich. Zur gleichen Zeit wurden auch die Bezirks- und Gebietsmuseen geschlossen und versiegelt. Ihr Museumsgut wollte man für den Aufbau der Zentralen Bezirks- und Gebietsmuseenverwenden.Diese neu eingerichteten Ausstellungen, Galerien und Kunstsammlungen sollten, laut der NS-Ostpolitik, ,die Nationalgefühle der Ukrainer nicht wecken‘ und die deutschen Soldaten vor Ort politisch und ideologisch erziehen.
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Nach den Säuberungen der Stalinisten in den 1920er und 1930er Jahren beschlagnahmten die Nationalsozialisten nun „Sammlungen von bolschewistischen Bildern, die vermeintlich das Alltagsleben in der Sowjetunion darstellen sollten“ (Gutsul 2013, S. 120). 1942/43 konfiszierte der Leiter der Hauptabteilung II des ERR, Wolfgang Ebeling, im Kunstmuseum Charkiw insgesamt mehr als 260 Objekte: „ca. 120 Gemälde italienischer, flämischer, niederländischer und französischer sowie Wiener Maler; ca. 80 ukrainische moderne Bilder (Wassilkowsky, Bergamos) und ca. 50 Ikonen; 12 Blatt mittelalterliche Originalgraphik (darunter Dürerholzschnitte, Lucas Cranach usw.); 4 Bibelhandschriften“ (Gutsul 2013, S. 163 f.). Ihr Verbleib ist bis heute nicht aufgeklärt.
Im Zuge der Befreiung der Stadt im August 1943 evakuierten die Mitarbeiter des ERR auf ihrem Rückzug vor den sowjetischen Truppen u. a. weitere „96 ukrainische Gemälde, 185 westeuropäische Bilder, 12 Holzschnitte und Kupferstiche, 25 Teppiche und Wandbehänge“ aus den Beständen des Charkiwer Kunstmuseums in Richtung Ostpreußen (Gutsul 2013, S. 156). Auch ihr Verbleib ist bis heute nicht aufgeklärt.
Das Zurückgebliebene wurde zum Teil geplündert, zum Teil vernichtet, sodass das Museum nach Kriegsende nur auf seine vor Herbst 1941 nach Sibirien ausgelagerten Bestände zurückgreifen konnte. 1944 wurde das Museum als Museum für Ukrainische Kunst wiedereröffnet; von 1949 bis 1965 hieß es Staatliches Museum der Schönen Künste, ab 1965 Charkiwer Kunstmuseum. Heute umfassen die Sammlungen des Museums wieder etwa 25 000 Exponate westeuropäischer, ukrainischer und russischer Malerei, Grafik, Skulptur, dekorativer und angewandter (einschließlich orientalischer) Kunst des 15. bis 21. Jahrhunderts. Außerdem bewahrt es auch seltene Beispiele von Stickereien, Keramik, Holzschnitzereien und Volksmalerei. Eines der Hauptwerke der Sammlung ist eine großformatige Ölstudie zu Ilja Repins (1844–1930) Gemälde Die Saporoger Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief (um 1880–1891).
Nach dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 wurde das Museumsgebäude am 7. März 2022 bei Luftangriffen auf die Stadt teilweise beschädigt.
„Zum Zeitpunkt der Luftangriffe waren Museumsangestellte bei der Arbeit – sie versteckten sich im Keller, sodass niemand verletzt wurde. Fast alle Kunstwerke wurden aus dem Museum evakuiert“, so die Museumsdirektorin Valentyna Myzgina. Bei Witterungsverhältnissen mit Frost und Schnee wurden sämtliche Fenster des Museums zerstört, sodass die ausgestellten Kunstwerke, in erster Linie Gemälde, in großer Gefahr waren. Die Evakuierung der Objekte musste schnell erfolgen und konnte natürlich nicht die üblichen konservatorischen Standards gewährleisten. So wurde auch Repins sehr empfindliches Gemälde rechtzeitig aus den Räumen entfernt.
Wir versuchten, schnell zu helfen – unser Museumsdirektor berichtet:
Als ich im April 2022 von der Bedrohung der Sammlungen des Kunstmuseums in Charkiw erfuhr, nahm ich Kontakt mit meiner dortigen Kollegin auf, um in Erfahrung zu bringen, wie wir aus Deutschland helfen könnten. Zuvor hatte ich die beschriebene Geschichte des Museums recherchiert und entdeckte verschiedene Verbindungen und Gemeinsamkeiten zum Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale).
Auch unsere Sammlung litt massiv unter der barbarischen Ideologie der Nationalsozialisten. 1937 verloren wir den größten Teil dessen, was vor 1933 das nationale Renommee des Hauses ausgemacht hatte: unsere hochkarätige Sammlung moderner Kunst, die nun als „entartete Kunst“ galt, beschlagnahmt, verkauft und vernichtet wurde. So verbindet unsere beiden Museen eine tragische Verlustgeschichte, die eine Folge des fatalen Wütens der Nationalsozialisten ist. Zum anderen gibt es eine indirekte Verbindung auf personeller Ebene. 1939 war Robert Scholz (1902–1981) Direktor des halleschen Kunstmuseums geworden. Er war einer der engsten Mitarbeiter von Alfred Rosenberg (1892–1946), dessen Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg in allen besetzten Gebieten – im Westen wie im Osten – für die widerrechtliche Beschlagnahmung von Kunst- und Kulturgut verantwortlich war.
Vor diesem Hintergrund fragte ich die Kollegen in Charkiw, wie wir helfen könnten. Die Antwort der stellvertretenden Direktorin, Larysa Abramenko, lautete: „Aufgrund dessen, was passiert ist, haben die Kunstwerke Stress ausgehalten und viele von ihnen müssen restauriert werden. Wir brauchen dringend: [Es folgt eine Auflistung von Materialien. – Anm. des Verf.] Wir bekommen Verpackungsmaterial aus Deutschland und Polen über Lwiw, aber das reicht nicht.“
Nachdem wir die Bestellung der Materialien ausgelöst hatten, galt es, eine Möglichkeit zu finden, die Hilfsgüter nach Charkiw transportieren zu können. Da es zum damaligen Zeitpunkt im Rahmen behördlicher Möglichkeiten nicht möglich war, Waren, die nicht auf der zwischen der Bundesrepublik und der Ukraine verhandelten Liste von Hilfsgütern standen, in das Land zu bringen, half uns eine seit vielen Jahren in Deutschland lebende Ukrainerin. Olena Balun machte es möglich, dass unsere Materialien gemeinsam mit anderen Hilfsgütern im Mai über Lwiw und Kyjiw nach Charkiw gebracht werden konnten, wo sie am 6. Juni eintrafen.
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In „Dankbarkeit und Respekt“, wie Frau Abramenko schrieb, erhielt ich stellvertretend für unser Museum am 28. Juni 2022 eine Ehrenurkunde „für die Fortsetzung der Tradition der Förderung von Weltkunst und die Unterstützung des Kunstmuseums in der Stadt Charkiw während der russischen Invasion in der Ukraine“.
Das Absurde hinter allem: Das Kunstmuseum in Charkiw, dessen Sammlung im Wesentlichen nach 1945 in der Ukrainischen Sowjetrepublik aufgebaut wurde, verwahrt zahlreiche Werke russischer Künstlerinnen und Künstler. Diese wurden im März 2022 von den ukrainischen Museumsmitarbeiterinnen und -mitarbeitern vor den Bomben der russischen Armee in Sicherheit gebracht!
Die gesamte zivilisierte Welt hielt es außerhalb des Vorstellbaren, dass ein brutaler Angriffskrieg, wie ihn Präsident Putin unter Missachtung des internationalen Völkerrechts gegen die Souveränität der Ukraine führt, möglich sei. Wie in allen Kriegen leidet auch jetzt wieder in erster Linie die Zivilbevölkerung und werden Kulturgüter unschätzbaren Wertes vernichtet oder außer Landes geführt.
Zumindest im Rahmen unserer bescheidenen Möglichkeiten dazu beigetragen zu haben, dass die evakuierten Kunstwerke im Charkiwer Kunstmuseum notgesichert werden können, nimmt uns ein Stück unserer Hilflosigkeit in unserer zum Glück noch friedlichen Gesellschaft.
Ich stehe weiterhin mit den Kolleginnen und Kollegen in Charkiw in Kontakt und wir haben vereinbart, in Verbindung zu bleiben und über gemeinsame Projekte nachzudenken, wenn dieser furchtbare, mit nichts zu rechtfertigende Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine vorbei sein wird. Möge es in nicht allzu ferner Zukunft sein!