7. September 2024

T. O. Immisch (1953–2024)
Ein Nachruf

 

 

31 Jahre leitete T. O. Immisch die Sammlung Fotografie des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale). Ab 1987 baute er mit viel Herzblut die heute etwa 80 000 Objekte umfassende Sammlung auf. Hinzu kommt eine exquisite Fachbibliothek mit mehr als 8 000 Bänden. Am 1. September 2024 ist T. O. Immisch mit 70 Jahren in Halle (Saale) verstorben. Wir trauern um unseren ehemaligen Kollegen – den feinsinnigen, lebensfrohen und leidenschaftlichen Foto-Kustos T. O. Immisch.

T. O. Immischs Wirken am Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) resultiert aus der großzügigen Schenkung des Nachlasses von Hans Finsler (1891–1972) durch dessen Tochter Regula Lips-Finsler: über 10 000 Objekte, darunter Glasplattenabzüge, Planfilmnegative, Silbergelatine- und Kontaktabzüge. Ein erster Meilenstein in der Bearbeitung dieses umfangreichen Konvoluts war 1991 die monografische Finsler-Ausstellung „Neue Wege der Photographie“. Hans Finsler leitete ab 1927 die erste Klasse für Sachfotografie in Deutschland überhaupt – und das in der Saalestadt an der heutigen Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle.

 

 

Ein erster Sammlungsschwerpunkt war gesetzt: die Fotografie des Neuen Sehens. T. O. Immisch gelang es, über die Jahre durch glückliche Umstände, durch Verhandlungsgeschick und durch gute Vernetzung fotografische Positionen aus dem Umkreis Finslers in die Sammlung zu integrieren: Gerda Leo (1909–1993), Heinrich Koch (1896–1934) und Annemarie Giegold-Schilling (1907–1982) erweitern und vertiefen die sogenannte „optische Grammatik“ Hans Finslers mit den eigenen Blicken der Assistentin Leo, des Nachfolgers Koch und der Studentin Giegold-Schilling.

 

 

T. O. Immisch ist es ferner zu verdanken, dass sich in den Jahren nach der Friedlichen Revolution 1989/90 die ostdeutsche Fotografie sowie die Fotografie aus Osteuropa zu einem zweiten Sammlungs­schwer­punkt entwickelten. Seit 1992 verwahrt das Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) das Bildarchiv des VEB Fotokinoverlags Leipzig mit etwa 26 000 fotografischen Abzügen von professionellen Fotografinnen und Fotografen sowie Amateurinnen und Amateuren. Zusammen mit der vom Fotokinoverlag herausgegebenen Zeitschrift „Fotografie“ liegt damit ein besonderer kunsthistorischer Schatz für die Forschung zur Fotografie in der ehemaligen DDR zu allen Themen und Richtungen vor.

 

Eva Mahn: Conni, Putzfrau, Malerin, Halle, 1989, Silbergelatine, 481 x 489 mm, Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt © Eva Mahn
Manfred Paul: aus der Serie: Stilleben, um 1987, Bromsilbergelatine, 180 x 238 mm, Dauerleihgabe Fotokinoverlag Leipzig, Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt © Manfred Paul

 

Das zweite große Konvolut zur ostdeutschen Fotografie ist die knapp 10 000 Werke umfassende Sammlung der Gesellschaft für Fotografie im Kulturbund der DDR (GfF). Ab 1982 vergab die GfF Förderaufträge, sammelte aus Gruppenausstellungen oder Wettbewerben. Die insgesamt 36 000 Abzüge beider Konvolute wurden dank T. O. Immisch nicht in alle Winde zerstreut, vielmehr steht dieser schier unendliche Fundus zur deutschen Kunst- und Zeitgeschichte der Welt geschlossen zur Verfügung. T. O. Immisch hat mit der Bewahrung dieser beiden wichtigen Konvolute als unbefristete Dauerleihgaben im Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) maßgeblich das Profil von dessen Sammlung Fotografie geprägt.

 

Ulrich Wüst: Berlin, aus der Serie: STADT-BILDER, 1980, Silbergelatine, 179 x 240 mm, Dauerleihgabe Gesellschaft für Fotografie, Berlin, Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt © Ulrich Wüst
Evelyn Richter: Straßenbahn, aus der Werkgruppe „Unterwegs“, 1977, Silbergelatine, 295 x 394 mm, Dauerleihgabe Gesellschaft für Fotografie, Berlin, Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt © Evelyn Richter Archiv der Ostdeutschen Sparkassenstiftung im Museum der bildenden Künste Leipzig

 

Mitte der 2000er Jahre kam durch eine glückliche Fügung die Sammlung konzeptuelle Fotografie des Fotoforums Kassel von etwa 2 000 Arbeiten in Form einer großzügigen Schenkung in die Sammlung. 1972 von Floris Neusüss (1937–2020) im Rahmen seiner Tätigkeit an der Gesamthochschule Kassel gegründet, widmete sich das Fotoforum Kassel in Ausstellungen und Projekten internationalen Tendenzen der künstlerischen Fotografie. So gelang es T. O. Immisch, dem ostdeut­schen Foto-Schwerpunkt durch eine westdeutsche, international ausgerichtete Tendenz zu erweitern. Als großer öffentlicher Auftakt für die umfassende Schenkung verstand sich 2007 die Ausstellung „Die zweite Avantgarde. Das Fotoforum Kassel 1972–1982“.

 

Andreas Bartsch: aus der Serie: „Kassel ist überall oder: Wo bin ich?“, 2007, Druck, 500 x 700 mm, Sammlung konzeptuelle Fotografie des Fotoforums Kassel, Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt © Andreas Bartsch
Renate Heyne: Berlin bei Nacht, 1979–1983, Color-Print, 343 x 500 mm, Sammlung konzeptuelle Fotografie des Fotoforums Kassel, Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt © Renate Heyne

 

Dies sind „nur“ die wichtigsten der in die Tausende gehenden großen und kleinen Konvolute, die T. O. Immisch in das Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) geholt hat. Zahlreiche weitere müssen hier unbenannt bleiben, die durch Schenkungen, Ankäufe und Dauer­leih­gaben das Sammlungskonzept intelligent erweitert und eindrücklich vertieft haben.

T. O. Immisch, der zunächst Psychologie und erst später Kunst­geschichte studiert hatte, war nicht nur Sammler. Er war auch Ausstellungsmacher oftmals in Kombination mit begleitenden Publikationen. Hans Finsler (1991), Gerda Leo (1994) und Heinrich Koch (2002) machte er in monografischen Ausstellungen einem größeren Publikum erstmals bekannt. Auch sein unermüdlicher Einsatz für die ostdeutsche Fotografie spiegelt sich in umfangreichen Präsentationen wieder: Mit Evelyn Richter (1992), Arno Fischer (1997) und Ursula Arnold (2000) bot er Vertreterinnen und Vertretern der DDR-Fotografie eine Plattform zur Neubetrachtung, auch mit den Aufnahmen, die bis dato für „die Schublade“, also fern der staatlichen Reglementierung, hergestellt worden waren. T. O. Immisch organisierte zudem eine Vielzahl von Gruppenausstellungen, die sowohl die Bereiche der Sammlung abdeckten als auch thematisch neue Wege und aktuelle Tendenzen der Fotografie aufzeigten – oft in Kooperation mit wichtigen nationalen und internationalen Museen:

  • Das Schöne ist der Glanz des Wahren: Tendenzen der DDR-Photographie der achtziger Jahre (1990),
  • Chimaera. Aktuelle Photokunst aus Mitteleuropa (1997),
  • Recollecting a Culture: Photography and the Evolution of a Socialist Esthetic in East Germany (1998, zusammen mit John P. Jacob und dem Photographic Resource Center at Boston University),
  • Ist die Photographie am Ende? Aktuelle Photo- und Medienkunst“ (2000, begleitend zum gleichnamigen Symposion der Deutschen Gesellschaft für Photographie e. V.)

... um nur einige wenige zu nennen. T. O. Immischs Abschieds­aus­stellung vor dem Renteneintritt war 2018 „Ins Offene. Fotokunst im Osten Deutschlands seit 1990“. Anhand von mehr als 400 Fotografien von 20 Fotografinnen und Fotografen wurde in der Ausstellung unter anderem die Frage gestellt, wie sich die Fotokünstlerinnen und Fotokünstler der ehemaligen DDR fast 30 Jahre seit der Wiedervereinigung entwickelt haben, wie westdeutsche Kollegin seither einen foto­künst­lerischen Blick auf Ostdeutschland geworfen haben und wie eine junge neue Generation auf Deutschland schaut. Nicht zu vergessen werden darf die Fotogalerie im zweiten Obergeschoss des Westflügels des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale), wo T. O. Immisch seit der Eröffnung des Erweiterungsbaus im Jahr 2008 in kleineren Präsentationen einzelne Positionen oder thematische Zusammenstellungen kuratierte.

 

 

Die hallesche Fotoszene ist ohne T. O. Immisch schwer vorstellbar. Bei seinen Reden zu Ausstellungseröffnungen lauschten alle Anwesenden stets wie gebannt, um kein Wort zu verpassen. Das galt, im über­trage­nen Sinn, auch für seine präzisen Texte. Er vermittelte bei der Sicherung von fotografischen Künstlernachlässen. Auch nach seinem Renteneinritt hatte er für seine Nachfolgerinnen stets ein offenes Ohr, half und stand mit seinem Wissen zur Seite. Als Gründungsmitglied des Vereins Helle Kammer (2022) engagierte er sich bis zuletzt für die Fotografie in der Saalestadt.

 

T. O. Immisch in der Ausstellung „Bilder vom Beginnen", 1988, Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt

 

Es ist nicht möglich, T. O. Immischs Wirken hier in aller Vollständigkeit aufzuzählen – er führte ein Leben für die Fotografie. Und vergaß dabei niemals den Menschen! Als Gründungskustos der Sammlung Fotografie des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale) wird er für immer Teil der deutschen Fotokunstgeschichte bleiben.

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