30. Dezember 2021

Der Konstrukteur El Lissitzky

 

Zwischen den beiden Weltkriegen, zwischen Oktoberrevolution und Sanatorium, zwischen Russland, Deutschland und der Schweiz liegt der Schaffensradius eines allseitig interessierten, politisch engagierten, komplexen Geistes – ein Blogbeitrag zum 80. Todestag von Lasar Markowitsch Lissitzki, besser bekannt als EL LISSITZKY.

In den Sammlungen des Kunstmuseums Moritzburg befinden sich insgesamt 59 Werke unterschiedlichster Art von El Lissitzky: Druckgrafiken, Zeichnungen, Collagen, Bücher, Plakate, Gemälde, Fotografien und sogar ein Teller. Thema hier ist jedoch ausschließlich der Künstler selbst mit seinem Selbstporträt als Konstrukteur von 1924. Dieses und zwei Vorstufen sind mit jeweils einem Abzug in der fotografischen Sammlung vorhanden und bündeln die Ideen des Konstruktivismus par excellence.

 

El Lissitzky: Selbstporträt (Konstrukteur, Vorstufe) 1924, Silbergelatine, 175 x 219 mm, Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt

 

In dem Selbstporträt als Schulterstück im Dreiviertelprofil zeigt sich El Lissitzky nachdenklich. Der konzentrierte Blick geht an der fotografischen Linse vorbei. Jene geistige Versenkung findet ihren Ausdruck in einer kleinen Unschärfe in der gesamten Aufnahme und in verwaschen aussehenden Bereichen, vor allem im Schatten des Bildhintergrundes. Dieser markiert die feine und vor allem exakte Lineatur des Millimeterpapiers – das Arbeitsmaterial des Architekten. Unschärfe und Exaktheit vereinte Lissitzky hier als Gegenpole. Er hatte 1909–1915 Architektur und Ingenieurswissenschaften an der TH Darmstadt studiert und lehrte in der Folge an verschiedenen Architekturfakultäten. 1919 wurde er etwa auf Geheiß des damaligen Direktors Marc Chagall (1887–1985) an die Kunsthochschule in Witebsk (Weißrussland) berufen. Dort wirkte auch der zwölf Jahre ältere Kasimir Malewitsch (1878–1935), der bereits 1915 mit dem Schwarzen Quadrat auf weißem Grund den radikalsten Ausdruck des Suprematismus fand. Lissitzky und Malewitsch traten in regen künstlerischen Austausch miteinander.

 



Der Zirkel und das Lineal vertrieben die Seele und die metaphysischen Spekulationen. Die Konstruktivisten [und mit ihnen Lissitzky, S. L.] traten auf. Sie sehen mit mehr Klarheit in die Zeit. Sie flüchten nicht ins Metaphysische … Sie wollen Sachlichkeit, wollen für tatsächliche Bedürfnisse arbeiten. Sie fordern wieder den kontrollierbaren Zweck in der künstlerischen Produktion.

Sophie Lissitzky-Küppers: El Lissitzky. Maler, Architekt, Typograf, Fotograf. Erinnerungen, Briefe, Schriften, Dresden 1976, S. 19

 

In der weiteren Bearbeitung des sogenannten Konstrukteurs von 1924 kommen die wesentlichen Aspekte, die Lissitzkys spätere Ehefrau Sophie Lissitzky-Küppers (1891–1978) in dem Zitat schildert, zum Ausdruck. Hier wird die Abgrenzung zu Malewitsch, zum Suprematismus sichtbar: Der reinen Formbestimmung weicht der Gedanke einer gesellschaftlichen Funktion der Kunst. In dem Editorial der Zeitschrift Weschtsch. Objet. Gegenstand formulierte Lissitzky selbst: „Der >Gegenstand< wird für die konstruktive Kunst eintreten, deren Aufgabe nicht etwa ist, das Leben zu schmücken, sondern es zu organisieren.“ Die schöpferischen Ideen (bei den Konstruktivisten ausgedrückt durch geometrische Formen) sollen in die Kulturlandschaften hineinwirken (etwa mittels der Architektur). Dieses Denken wird in dem Selbstporträt bildhaft, wenn das Millimeterpapier als Symbol für die Architektur gewissermaßen zur Haut des Schöpfers, zu Lissitzkys Haut, wird, indem es sein Gesicht als Struktur überlagert: Denken, um zu konstruieren, zu gestalten und zwar in den Raum hinein. Daher greifen des Architekten, Ingenieurs oder Designers Arbeitsgrundlagen – Millimeterpapier und Zirkel – von dem schaffensreichen Geist auf die große weiße Fläche, die ihn umgibt, über. Zugleich tritt so die Strukturiertheit der eigenen Gedanken im Auftrag des Kunstschaffens hervor. Nach den ereignisreichen politischen Umwälzungen in Russland nach der Oktoberrevolution 1917, an deren Ende 1922 die Gründung der Sowjetunion stand, sah Lissitzky eine Chance, die noch unstrukturierte, neue Spielfläche, den leeren Raum der Kulturlandschaft der Sowjetunion gestalten zu können. Das tat der Künstler auf vielfältige Weise.

 

1890 in Potschinok, Russland geboren
 
1909–1915 Studium der Architektur und Ingenieurswissenschaften an der TH Darmstadt, Diplom
 
1919 Lehrtätigkeit an der Architekturfakultät und den grafischen und drucktechnischen Werkstätten in Witebsk
 
1920 Schöpfung des Begriffes Proun für eine bedeutende Werkgruppe. Proun ist ein Neologismus aus ‚Pro‘ und ‚Unowis‘ (Projekte für die Begründung des Neuen)
 
1920–1921 Berufung an die Architekturfakultät der neuen Kunstschule WChUTEMAS in Moskau
 
1921 Reise nach Berlin; Illustrationen zu Ilja Ehrenburgs (1891–1967) 6 Erzählungen mit leichtem Schluß.
 
1922 Zusammen mit Ehrenburg Herausgabe der dreisprachigen Zeitschrift Weschtsch. Objet. Gegenstand; Mitarbeit an den Vorbereitungen zur Ersten Russischen Kunstausstellung in Berlin; Kontakt zu László Moholy-Nagy und Kurt Schwitters; lernt Raoul Hausmann, Hannah Höch und Hans Richter kennen; Kontakte zur Kestner-Gesellschaft Hannover; lernt hier seine spätere Ehefrau Sophie Küppers kennen
 
1923 Gestaltung von Wladimir Majakowskis Für die Stimme; erste Einzelausstellung in der Kestner-Gesellschaft.;Druck der ersten Kestnermappe; hält Vorträge über die moderne russische Kunst; Erkrankung an Lungentuberkulose
 
1924 Kuraufenthalt in der Schweiz; Mitherausgeber von Kurt Schwitters Merz-Heft „Nasci“; entwirft Reklamen für die Firma Pelikan; Zusammenarbeit mit Hans Arp an Die Kunstismen; Entwurf des Architektur-Projektes Wolkenbügel (Moskau)
 
1925 Rückkehr nach Moskau, Tätigkeit als Architekt
 
1926 erneut Lehrtätigkeit an der WChUTEMAS für Holz, Metall, Innenarchitektur und Möbelgestaltung; Bühnenbild für Sergei Tretjakows Ich möchte ein Kind
 
1927 Installation des Abstrakten Kabinetts im Provinzialmuseum Hannover; entwickelt den Begriff fotopsis für „Fotoschreiben“ bzw. „Fotomalen“
 
1928 besucht das Bauhaus
 
1929 Auftrag zur Gestaltung der Internationalen Werkbundausstellung Film und Foto in Stuttgart; verantwortlicher Architekt für den Zentralpark für Kultur und Erholung (Gorki-Park) in Moskau
 
1932 verantwortlicher Gestalter der Propagandazeitschrift USSR im Bau
 
1936 Innenausgestaltung des Sowjet-Pavillons auf der Weltausstellung in Paris
 
1941 El Lissitzky stirbt in Moskau.
 

 

Wann und unter welchen Umständen El Lissitzky mit dem Fotografieren begann, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Viele seiner Aufnahmen sind nicht datiert und wurden auch zu seinen Lebzeiten nur spärlich veröffentlicht. Seine Experimentierfreude mit Mehrfachbelichtungen, Montagetechniken, Fotogrammen, Negativ- und Positivabzügen steht dabei in einer Linie mit den Entwicklungen seiner Zeit. Zu nennen sind etwa Christian Schads (1894–1982) Schadografien, Man Rays (1890–1976) Rayogramme oder László Moholy-Nagys (1895–1946) Fotografien. Misty-Dawn MacMillan hat in ihrer Masterarbeit an der Ryerson University, Toronto zu El Lissitzkys collageartiger Arbeit Selbstporträt als Konstrukteur 3 Negative, 53 Abzüge und 9 autorisierte Reproduktionen zusammengetragen. In einem Brief vom 12.12.1924 schrieb der Künstler dazu: „Arbeite jetzt ein Selbstporträt. Ein kolossaler Blödsinn, wenn die Absichten klappen.“

Was Lissitzky „Blödsinn“ nennt, erscheint in Anbetracht der verschiedenen Vorstufen und Variationen in den Abzügen aus heutiger Sicht eher als ein Ringen um eine gültige Definition seiner konstruktivistischen Absichten.

 

El Lissitzky: Selbstporträt (Konstrukteur), 1924, Silbergelatine, 228 x 163 mm, Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt

 

In der finalen Variante fügte Lissitzky dem Zirkel noch die entsprechende Form des Kreises hinzu. Des Weiteren ergänzte er in der linken oberen Ecke seinen aus geometrischen Grundformen bestehenden Briefkopf, den er um diese Zeit für sich entworfen hatte. Auf den Zeilen, die er normalerweise für die Adresse des Empfängers nutzte, prangen in Versalien die letzten Buchstaben des deutschen Alphabets, zu denen es vielfältige Interpretationsansätze gibt. Der Einfachste ist eine Anspielung auf seine früheren Beiträge in der Architekturzeitschrift ABC. Ein Anderer ist der Verweis auf das Kartesische Koordinatensytem mit X-, Y- und Z-Achse, d. h. ein Verweis auf Wissenschaft/Technik, auf Raum. Der schöpferische Prozess bewegt sich folglich in dem Spannungsfeld von Organischem und Technischem. Ein kräftiger Pfeil weist in der Nähe auf ein relativ zartes el und im weiteren auf den Kopf des Konstrukteurs. Lissitzky spielt damit nicht (nur) auf seinen selbstgewählten Namen an: El bedeutet im hebräischen Gott. Sein jüdischer Glaube nimmt mittels zweier kleiner Buchstaben Gestalt an. Betsalel war der erste jüdische, von Gott gewählte Künstler – ein Architekt, der den Tempel in der Wüste baute. Der Name bedeutet ‚im Schatten Gottes‘ und Lissitzkys rechte Gesichtshälfte liegt tatsächlich im Dunkeln – der durch das Werk geschaffene Interpretationsraum ist groß.

Fest steht: Mit dem Selbstporträt als Konstrukteur hat der Künstler ein Symbolbild sondergleichen für die Zeit der 1920er Jahre geschaffen. Es wurde vielfach publiziert, etwa auf dem Umschlag des Buchs „foto-auge“ von Franz Roh (1890–1965) und Jan Tschichold (1902–1974). Letzterer schrieb 1965 über das Selbstporträt: „Aufgabe, Technik und Gestalt decken sich hier vollkommen. Dieses Selbstbildnis ist sein schönstes und wichtigstes Werk.“

Alles durchdringt einander, alles spielt zusammen und bildet ein harmonisches Gesamtgefüge. Der in die Welt wirken wollende Gestaltungswillen der Kunst braucht den allseitig klaren Geist des Künstlers, der nicht nur Künstler ist: Er ist Erfinder, Konstrukteur, Denker, Architekt, Maler, Fotograf, Typograf, Druckgrafiker, Buch- und Plakatgestalter, Bühnenbildner, Ausstellungsmacher, Redner, Lehrender und so vieles mehr. Viele dieser Bereiche hat er durch entsprechende Symbolik, ihre Anordnung und Form in seinem Selbstbildnis festgehalten und somit ein programmatisches Manifest des Konstruktivismus geschaffen. Und eigentlich gibt es noch so viel mehr über El Lissitzky zu sagen … und auch 80 Jahre nach seinem Tod stets Neues zu entdecken!

 

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