28. September 2021
Der Trödel in Halle (Saale)
Drei Künstler, drei Fotografien, ein Motiv, eine Zeit …
In der fotografischen Sammlung des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale) befinden sich drei Aufnahmen von drei Künstlern aus der Zeit des Jahrzehntwechsels von den 1920er zu den 1930er Jahren, die allesamt das charmante Viertel des Trödels in Halle zeigen.
Anlässlich des heutigen 28. Todestages von Gerda Leo (1909–1993) werden in diesem Blogbeitrag die Trödel-Aufnahme von ihr mit der von Hans Finsler (1891–1972) und Lyonel Feininger (1871–1956) verglichen: Die drei Schwarzweißfotografien vereinen Ähnlichkeiten und Gegensätze und offenbaren am Ende elementare Wesenszüge der Fotografie.
Neben dem Alten Markt, dem Großen Markt und dem Hallmarkt zählte der Trödel einst, gemäß dem Namen, der sich vom dortigen Handel ableitete, zu den vier halleschen Marktplätzen. Eine schmale Gasse, in den Platz mündend, war im Mittelalter eine gehobene Wohngegend der Patrizierfamilien. In den 1960er Jahren musste der Trödel Neubauten weichen. Unsere drei Fotografien sind folglich nicht nur von kunsthistorischem, sondern auch von dokumentarischem Wert und als Chronik des einst Dagewesenen zu betrachten. Hans Finsler nannte diese bedeutende Fähigkeit der Fotografie die „Konservierung des Geschehens“ und meinte damit die „Ueberwindung der Vergänglichkeit der Zeit“ (Hans Finsler, Neue Wege der Photographie 1991, S. 291).
Während sich die Trödel-Aufnahmen von Lyonel Feininger und Gerda Leo auf den ersten Blick ähneln, steht Finslers Bild in der Dreierreihe singulär. Als Vertreter des „Neuen Sehens“ wählte er einen anderen Standpunkt für das Motiv. Finsler war seit 1922 an den Werkstätten der Stadt Halle, Staatlich-Städtische Kunstgewerbeschule Burg Giebichenstein (kurz: Burg), zunächst als Bibliothekar und Lehrbeauftragter tätig. Ab 1927 leitete er die neu eingerichtete Klasse für Sachfotografie – die erste Klasse ihrer Art an einer Kunstgewerbeschule überhaupt. Hans Finsler wollte nicht den Charme des Viertels einfangen, vielmehr ging es ihm um Gegensätze: Fachwerkhäuser und Neues Bauen, Mittelalter und Moderne. Daher überragt in seiner Aufnahme der siebengeschossige, turmartige Flügel des 1929 von Bruno Föhre (1883–1937) erbauten Kaufhauses Lewin zentral die kleinen, alten Fachwerkhäuser. Das Kaufhaus steht symptomatisch für die neue Zeit.
Wir erleben den Menschen, den Rhythmus der Zeit anders als frühere Generationen, und dieses Erlebnis ist der eigentliche Inhalt der Photographie.
In jedem Werk eines bedeutenden Photographen ist sein Verhältnis zu den Aeusserungen des Lebens erkennbar.
“
Abgesehen von dem sanften Schatten im Bildvordergrund wählte Finsler eine Tageszeit mit gleichmäßigem Streulicht: Starke Akzente durch Schatten gibt es nicht. Dafür gibt es aufstrebende Vertikale durch Regenrinnen und Hausbegrenzungen. Diese betonen die Monumentalität des Kaufhauses gegenüber den kleinen Fachwerkhäusern. Im Glasnegativ tritt durch die Invertierung der Tonwerte das feine, die Häuser formende, Gerüst heller Linien deutlich zu Tage.
Durch die Wahl des Bildausschnitts und der Perspektive gelingt Finsler eine Gliederung der Architektur in drei ineinandergreifende Ebenen. Die vordere Häuserfront bildet eine Diagonale, die im dritten Haus der zweiten Ebene mündet. Von dort schieben sich die Häuserfassaden der zweiten Reihe diagonal nach vorn und hinten und lenken den Blick auf den in der Bildmitte aufkragenden Block des Kaufhauses. Zur Funktionsweise der Fotografie generell schrieb Finsler: „Trotzdem, es gibt Gesetze der Photographie. Sie hängen zusammen mit der Reduktion des Raums auf die Fläche, mit der Fixierung der Bewegung, mit dem Ausschnitt aus dem Raum […]“ (Hans Finsler, Neue Wege der Photographie 1991, S. 292). Gekonnt lenkt er das Auge auf die zentrale architektonische Gegenüberstellung, der horizontale Schatten am Boden des Bildvordergrunds dient ihm ästhetisch als Basis für das Motiv.
Gerda Leo besuchte 1929 die Fotoklasse von Hans Finsler an der Burg und wurde schon ein Jahr später seine Assistentin. Wie ihr Mentor war sie dem Neuen Sehen verhaftet und damit dem Ziel, das Wesen der Dinge zu erkennen und in der Fotografie zu verbildlichen. In vielen freieren Aufnahmen Leos wird aber deutlich, dass sie sich durchaus von der reinen Objektbezogenheit, wie sie sich bei vielen Vertretern des Neuen Sehens findet, löst und auch atmosphärische Elemente einbezieht.
Gerda Leos Standpunkt bei ihrer Aufnahme des Trödels war unmittelbar an dem Bauzaun, der bei Finsler am rechten Bildrand vor dem ersten Haus steht. Dadurch ist nur noch ein kleines Stück vom Dachgeschoss des Kaufhauses Lewin in der rechten oberen Bildecke zu sehen – es guckt sich gewissermaßen weg. Was bleibt, ist die volle Pracht des Charmes der teils sanierungsbedürftigen Häuser am Trödel: Der Blick auf den kleinen, asymmetrischen Platz, umringt von alten Ladengeschäften. Finslers Aufnahme ist zudem menschenleer, während bei Leo gleich am unteren Bildrand eine Frau mit zwei Kindern der Fotografin entgegenging: Der Trödel ist nicht bloße Kulisse aus einer vergangenen Zeit. Hier gibt es Geschäfte, hier leben Menschen, die durch ihre Kleidung einen konkreten historischen Moment abbilden. Leos Trödel-Architektur mag somit als Zeitbild funktionieren. Als besonderen Reiz wählte Leo Lichtverhältnisse mit extremem Schattenwurf. Die schmale Gasse, die zum Marktplatz führt, liegt komplett im Dunkeln, ebenso wie der gesamte untere Bildteil. Die Schatten der Dächer kreieren scharfkantige Formen auf den rechtsseitigen Häuserfassaden. Den ungeraden und hutzeligen alten Häusern entsprechen die bizarren, natürlich entstandenen Schattenspiele. Der Gegensatz zwischen hell und dunkel, zwischen beleuchtet und unbeleuchtet, zwischen Licht und Schatten ist ein wiederkehrendes gestalterisches Element in den Fotografien von Gerda Leo und auch ein stilistisches Merkmal des Neuen Sehens. Zugleich gelingt es Leo auf diese Weise, die besondere Atmosphäre des Orts einzufangen.
Lyonel Feininger, dessen Geburtstag sich am 17. Juli 2021 zum 150. Male jährte, fand mit seiner Fotografie vom halleschen Trödel die Architekturen, die ihm von den thüringischen Dörfern vertraut waren, die er schätzte und die er in seinen Zeichnungen, Radierungen, Lithografien und Gemälden immer wieder festhielt. Hierbei geht es nicht um den Prismaismus, die metaphysische Aufgliederung des Bildraumes, die ihn bekannt gemacht hat (wenn auch Ansätze in der verwinkelten, sich überlappenden Architektur erkennbar scheinen), sondern um den Charme der Altstädte, die Verlebendigung der Architekturen, die noch von seinen Karikaturen und Comic-Serien herrührt und die ihn im Medienwechsel zum freien Künstlertum brachten.
Feininger steht anders als Leo weiter vorn auf dem Platz, sodass der Bauzaun und das Lewin’sche Kaufhaus aus dem Bild gebannt sind. Die Dachspitze des Hauses links bildet nicht wie bei Leo den oberen Bildabschluss, vielmehr spart Feininger die gesamte obere Etage aus. Der engere Bildausschnitt schafft zusammen mit den klaren Lichtverhältnissen eine geordnetere Ansicht des Quartiers.
In Feiningers Aufnahme scheinen zudem die beiden rechts stehenden Häuser nach vorne zu kippen und nach links abzudriften. Wohingegen auf der linken Seite sich das dritte Haus in den Vordergrund zu drängen scheint, um sich gegen den Nachbarn rechts besser präsentieren zu können. Das meint Verlebendigung. Feininger reicht eine kleine Standortverschiebung für den richtigen Bildausschnitt, um in der Fotografie das festzuhalten, was er überspitzt in seinen Comics und Karikaturen macht: Häuser zum Leben erwecken.
Sichtbar wird das bereits in der Radierung „Die kleine Stadt“, um 1911. Die Szenerie ist ganz der des Trödels ähnlich: ein kleiner Platz mit krummen und schiefen Häusern, die irgendwohin kippen. Und hierin liegt das Erstaunliche: Feininger ist in der Lage, die Dinge aus seiner freien Kunst, aus seinen eigenen Ideen auch in der wirklichen Welt zu finden – und das mit einem Medium, dessen größte Stärke das „Konservieren“ von Realität ist.
Hans Finsler fragte deshalb in seinem Aufsatz „Das dritte Auge“ von 1965, ob es „eigentlich eine gestaltende Photographie“ gäbe? Sein Resultat ist eindeutig:
Der Kunsthistoriker Wolfgang Born (1893–1949) formulierte es etwas genauer:
„Es ist noch nicht lange her, seit man vor einem Lichtbild das Wort ‚Stil‘ ausspricht. […] Stil aber ist nichts anderes als der unbewußte Filter, durch den hindurch die Erfindungen oder Erlebnisse des Künstlers müssen, um aus ungestaltetem Rohmaterial zum gestalteten Kunstwerk zu werden. Das […] Formgesetz entsteht aus dem Zusammenwirken menschlicher und kultureller Voraussetzungen.“ | ||
Zit. nach: Neu Sehen. Die Fotografie der 20er und 30er Jahre, hrsg. v. Kristina Lemke, Bielefeld/Berlin 2021, S. 19 |
Genau das – die Übersetzung eigener Haltung ins visuelle Bild - wird bei den drei Fotografien desselben Motivs aus derselben Zeit von drei verschiedenen Persönlichkeiten sichtbar.