27. März 2021

Zum Pessach-Fest:
Jüdische Volkskultur in
Lissitzkys Chad Gadya

 

Zum Pessach-Fest im Frühling

Pessach (פסח), das erste von drei Wallfahrtsfesten, ist ein jüdischer Feiertag und wird sieben Tage lang gefeiert. Das Fest markiert den Auszug der Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten (Exodus, Kapitel 12,1-18,27). Noch heute wird im Gedenken an dieses Ereignis nur ungesäuertes Brot gegessen, weil der plötzliche Aufbruch aus Ägypten es nicht gestattete, den Brotteig vor dem Backen säuern zu lassen. Der Name stammt von dem in der Bibel gebotenen Opfer eines Lammes, das vor dem Auszug geschlachtet und gegessen wurde.

Der Sederabend markiert den Beginn des Festes. Nach dem hebräischen Wort für „Ordnung“ wird diese Zeremonie Seder (סדר) genannt. Im Wesentlichen zeichnet sich dieses Fest dadurch aus, dass es für die beiden ersten Abende eine festliche Mahlzeit gibt, die nach einer festen Ordnung verläuft. Zum Seder versammelt sich die ganze Familie; nach Möglichkeit werden auch Gäste eingeladen. Der Inhalt umfasst die Verlesung der Haggada (הגדה : „Erzählung“). Derjenige, der den Seder leitet, soll die Texte nicht nur vortragen, sondern sie auch erklären. Die Verlesung der Haggada wird durch das Abendessen unterbrochen. Der zweite Teil des Seders ist etwas aufgelockert und enthält eine Reihe von Liedern. Chad Gadya (aramäisch: חד גדיא „ein kleines Lämmlein“ oder „eine kleine Ziege“) ist ein spielerisches kumulatives Lied auf Aramäisch und Hebräisch, das bei Ende des Sederabends von allen gemeinsam gesungen wird.

 

El Lissitzkys Grafik-Serie von 1919

Der russische, jüdische Avantgarde-Künstler El Lissitzky (1890–1941) veranschaulicht in seinem Werk Chad Gadya (1919) das gleichnamige beliebte Pessach-Seder-Lied. Die Grafikserie wurde am 6. Februar 1919 in einer Auflage von nur 75 Exemplaren von der weltlichen jüdischen Organisation „Kultur Lige“ veröffentlicht. In unserer Grafischen Sammlung befindet sich eine vollständige Serie, die das Museum 1991 von Albert Kapr (1918–1995) ankaufte. Kapr war einer der bedeutendsten Typografen und Schriftgestalter der DDR und von 1959 bis 1961 sowie 1966 bis 1973 Rektor der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig.

Biografie Albert Kaprs in der Sächsischen Biografie

Die inklusive Titelblatt 11 Farblithografien Lissitzkys markieren den Höhepunkt seiner persönlicher künstlerischen Auseinandersetzung mit der jüdischen Kultur durch Sprache und Symbole. In den Jahren vor der Veröffentlichung Chad Gadyas hatte er sich, nach dem Ende seines Architekturstudiums, fast ausschließlich der jüdischen Volkskultur und der Illustrationen von jüdischen Büchern gewidmet. Viele Elemente, die Lissitzkys Avantgarde-Stil in den folgenden Jahrzehnten bestimmten, sind bereits in Chad Gadya offensichtlich. Dies zeigt sich besonders in seinen Experimenten mit Sprache und Typografie.

Schauen wir uns das Titelblatt näher an:

 

El Lissitzky: Titelblatt "Chad Gadja" (auch Had Gadya), Kultur-Liga Kiew 1919, 1919, Farblithografie (in 5 Farben), 225 x 195 mm, Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt

 

Hier zeigt Lissitzky symbolisch einen Jungen, der ein offenes Büchlein mit dem Titel des Liedes Chad Gadya (חד גדיה) in der Hand hält und dem eine kleine Ziege über die linke Schulter schaut. Die Ziege steht hier für das im Lied erwähnte Lämmchen, das teils auch als „Kind“ betitelt wird – diese Variationen verdeutlichen die Sprachvielfalt des Liedes. Auf den Schriftbändern unter den Füßen des Jungen stehen die Veröffentlichungsdetails und der Name des Künstlers. Die Wörter auf Jiddisch „gezeichnet und lithographiert“ (געצייכנט און ליטאגראפירט) sind in gelber Schrift in der Mitte zu sehen. Der Ort der Veröffentlichung, Kiew (קיעוו), sowie das Datum, 1919 (תרעט), sind beide rechts in schwarzer Schrift gezeichnet. Links von den Jungenfüßen, ebenfalls in schwarzer Schrift, steht Lissitzkys Hebräischer Vollname: Eliezer Lissitzky (אליעזר ליסיצקי).

Der Text des Liedes selbst hat eine verkettete Struktur und führt eine Reihe von Charakteren ein, von denen jeder den vorhergehenden zerstört (die Katze frisst das Lamm, der Hund beißt die Katze, ein Stöckchen schlägt den Hund usw.), bis Gott die Kette der Gewalt beendet. Die spielerisch-kindliche Natur des Liedes lässt darauf schließen, dass es wahrscheinlich mit dem Ziel entstand, die Aufmerksamkeit kleiner Kinder bis zum Ende des Seders zu erregen und zu halten, da dieser in der Regel ziemlich lang ist.

 

Ein Lämmchen, ein Lämmchen,
das mein Vater für zwei Münzen gekauft hat;

ein Lämmchen, ein Lämmchen.
Da kam das Kätzchen und fraß das Lämmchen,
das mein Vater für zwei Münzen gekauft hat;

ein Lämmchen, ein Lämmchen.
Da kam das Hündchen und biss das Kätzchen,
das das Lämmchen fraß,
das mein Vater für zwei Münzen gekauft hat;

ein Lämmchen, ein Lämmchen.
Da kam das Stöckchen und schlug das Hündchen,
das das Kätzchen biss, das das Lämmchen fraß,
das mein Vater für zwei Münzen gekauft hat;

ein Lämmchen, ein Lämmchen.
Da kam das Feuerchen und verbrannte das Stöckchen,
das das Hündchen schlug,
der die Katze biss,
die das Lämmchen fraß
das mein Vater für zwei Münzen gekauft hat;

ein Lämmchen, ein Lämmchen.
Da kam das Wässerchen und löschte das Feuerchen,
das das Stöckchen verbrannte und das Hündchen schlug
der die Katze biss,
die das Lämmchen fraß
das mein Vater für zwei Münzen gekauft hat;

ein Lämmchen, ein Lämmchen
Da kam der Ochse und trank das Wässerchen,
das das Feuerchen gelöscht hat,
das das Stöckchen verbrannt hat
das das Hündchen schlug,
der die Katze biss,
die das Lämmchen fraß
das mein Vater für zwei Münzen gekauft hat;

ein Lämmchen, ein Lämmchen.
Da kam der Schochet* und schächtete den Ochsen,
der das Wässerchen getrunken hat
das das Feuerchen gelöscht hat,
das das Stöckchen verbrannt hat
das das Hündchen schlug,
der die Katze biss,
die das Lämmchen fraß
das mein Vater für zwei Münzen gekauft hat;

ein Lämmchen, ein Lämmchen.
Da kam der Todesengel
und schlachtete den Schlächter
der den Ochsen getötet hat
der das Wässerchen getrunken hat
das das Feuerchen gelöscht hat,
das das Stöckchen verbrannt hat
das das Hündchen schlug,
der die Katze biss,
die das Lämmchen fraß
das mein Vater für zwei Münzen gekauft hat;

Da kam der Heilige, gesegnet sei ER
und erschlug den Todesengel,
der den Schochet schächtete,
der den Ochsen schächtete, der das Wässerchen trank,
das das Feuerchen löschte, das das Stöckchen verbrannte,
das das Hündchen schlug, das das Kätzchen biss,
die das Lämmchen fraß
das mein Vater für zwei Münzen gekauft hat;

ein Lämmchen, ein Lämmchen.

 

*ein jüdischer Metzger, Schchita= schlachten

 

Anstelle des traditionellen Aramäisch wählte Lissitzky für die Verse des Liedes vornehmlich die jiddische Sprache, die er über den Illustrationen in Schriftbänder setzte. Die Mischung aus dekorativen hebräischen Buchstaben und kreisförmigen und dreieckigen Farbebenen zeigt seine Beschäftigung mit Gestaltung. Lissitzky verknüpft Text und Bild durch ein System der Farbcodierung, bei dem die Farbe der Hauptfiguren in jeder Abbildung mit der Farbe des entsprechenden Wortes für diese Figur im jiddischen Text übereinstimmt.

Wie man in der zweiten Abbildung sieht, wird die Handlung des zweiten Verses „Dann kam die Katze und fraß das Lämmchen“ in einem kreisförmigen Schriftband gezeigt und von rechts nach links gelesen. Das Wort Katze ist wie die Darstellung der Katze in Rot gesetzt, während das Zicklein eine grüne Schrift und das Tier grün konturiert erscheint.

 

El Lissitzky: Iz gekummen die kats ..., Blatt der Mappe "Chad Gadja" (auch Had Gadya), Kultur-Liga Kiew 1919, 1919, Farblithografie, 250 x 202 mm, Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt

 

Bei den folgenden Blättern variiert die Farbe der Tiere von Vers zu Vers: Nun ist die Katze grün statt rot, während der Hund in der darauffolgenden Illustration seine Farbe von schwarz zu orange wechselt.

Unter jeder Abbildung befindet sich zudem eine Phrase aus der aramäischen Originalversion des Liedes. Um die Seiten zu markieren, platzierte Lissitzky dekorative hebräische Buchstaben in der oberen linken Ecke jeder Seite. Die Buchstaben können als Zahlen gelesen werden, da jeder Buchstabe im hebräischen Alphabet einen numerischen Wert besitzt. Die Abbildungen werden also nicht nur durch die Wiederholung dieser kompositorischen und typografischen Elemente, sondern auch durch die Wiederholung bestimmter Motive vereinheitlicht.
 

El Lissitzky: Iz gekummen der hund ..., Blätter der Mappe "Chad Gadja" (auch Had Gadya), Kultur-Liga Kiew 1919, 1919, Farblithografien, Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Fotos: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt

 

Nach der Fertigstellung seines Chad Gadya entwickelte Lissitzky seine eigene abstrakte geometrische Sprache weiter und präsentierte sich als „El“ Lissitzky. In seinen späteren Kunstwerken bezog er sich nur bedingt auf seinen jüdischen Hintergrund, etwa indem er hebräische Buchstaben einbezog.

 

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Rana Choir singt Chad Gadya, 2016

Der jüdisch-arabische Frauenchor Rana Choir besteht aus zwanzig muslimischen, jüdischen und christlichen Frauen.

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Chava Alberstein singt Chad Gadya, 1989

Die Version der israelischen Sängerin Chava Alberstein erschien 1989 während der Ersten Intifada – einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen Palästinensern und der israelischen Armee zwischen 1987 und 1993. Alberstein verwendete den traditionellen Text, fügte jedoch einen neuen Teil hinzu. In ihrer Version bleibt Gott am Ende abwesend, die Kette der Gewalt wird nicht gebrochen. Aufgrund ihrer kritischen Haltung zur israelischen Besatzungspolitik wurde das Lied einige Zeit vom israelischen Staatsrundfunk boykottiert.

Das Video zeigt die zur jeweiligen Textstelle passenden Illustrationen Lissitzkys.

 

 

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Publikation / Online-Publikation

Arnold J. Band / Nancy Perloff (hrsg.): Had Gadya, The Only Kid. Facsimile of El Lissitzky´s Edition of 1919

Getty Research Institute, Los Angeles 2004

Die vollständige Publikation steht zur Online-Ansicht und als PDF-Download zur Verfügung.

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Publikation

Simon Heinrich: Jüdische Feiertage

Verlag Hentrich und Centrum Judaicum, Berlin 2003