27. August 2020

Zuckertütenfest

Meine Zuckertüte hättet ihr sehen müssen! Sie war bunt wie hundert Ansichtskarten, schwer wie ein Kohleneimer und reichte mir bis zur Nasenspitze! Ich saß vergnügt auf meinem Platz, zwinkerte meiner Mutter zu und kam mir vor wie ein Zuckertütenfürst.

Erich Kästner (1899–1974),
aus: „Als ich ein kleiner Junge war“ (1957)

Ab heute dürfen die neuen Erstklässler in Sachsen-Anhalt endlich zur Schule gehen. Was sorgt wohl hauptsächlich dafür, dass dieser Tag ein so besonderer ist? Die Tatsache, dass Sie jetzt Schulkinder und damit „groß“ sind, dass sie anhand von Zuckertüten und Ranzen eindeutig als Schulkinder zu identifizieren sind oder Aussehen und Inhalt der Zuckertüten?

Um die spitz zulaufenden bunten Tüten – in zahlreichen Regionen Deutschlands werden Sie etwas nüchterner als „Schultüten“ bezeichnet – ranken sich verschiedene Geschichten und zahllose Erinnerungen.

Ihren Siegeszug in Händen glücklicher Erstklässler trat die Tüte mit süßem Inhalt zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Mitteldeutschland aus an. Ein erster Beleg findet sich für das Jahr 1817 in Jena. Dem flügge werdenden Nachwuchs sollte der Abschied von Zuhause „versüßt“ werden, indem die Kinder kleine Papiertüten mit Gebäck überreicht bekamen. Als Vorlage für die spitz zulaufende Form dienten Süßigkeitentüten, wie sie heute noch zuweilen auf Jahrmarktständen zu finden sind. Damals wurde vielen Kindern weisgemacht, die Tüten würden an einem „Zuckertütenbaum“ wachsen. In einigen Regionen wurde sogar kolportiert, dass dieser im Keller des Schulgebäudes stünde. „Zuckertütenbäume“ gibt es heute noch in vielen Kindergärten zur Verabschiedung der nun „großen“ Kleinen.

 

Nach dem Christfest kam der Ruprecht müd ins Zwergenland. Eine große Wunderzwiebel trug er in der Hand.

,Pflanzt sie, pflegt sie‘, sprach der Alte, ,wenn ich lieg im Traum, dann wächst lustig unser neuer Zuckertütenbaum!

Albert Sixtus (1892-1960),
aus „Der Zuckertütenbaum“ (1928)

 

Ab 1910 wurden die bunten Tüten maschinell hergestellt. Der erste Produzent saß im erzgebirgischen Wiesa und zählt noch heute zu den größten Unternehmen, die Schultüten herstellen. Galt der Besitz einer gekauften Zuckertüte seinerzeit als fortschrittlich und sagte etwas über die finanziellen Verhältnisse der Familie aus, scheinen heute viele Eltern der Auffassung zu sein, ihre Liebe und Fürsorge für den Nachwuchs würde sich in der Kreativität und den individuellen Details ihrer in langen Nächten gebastelten Schultüten widerspiegeln. Sehr individuell gestaltet sind auch die Zuckertüten der drei Kinder in einer in den späten 1960er Jahren entstandenen, farbenfrohen Tuschezeichnung des Schriftstellers, Bühnen- und Kostümbildners, Malers und Fotografen Einar Schleef (1944˗2001), dessen gesamter bildkünstlerischer Nachlass sich im Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) befindet.

Der bildkünstlerische Nachlass Einar Schleefs
auf www.museum-digital.de

 

Obwohl sich der Schultüten-Brauch heutzutage über ganz Deutschland und weite Teile Österreichs erstreckt, ist es dennoch nicht jedem Kind vergönnt, eine Zuckertüte sein eigen nennen und alle notwendigen Arbeitsmaterialien in seinem Ranzen zu haben. Für Kinder, deren Eltern finanziell eingeschränkte Möglichkeiten haben, hat die die AWO die „Aktion Zuckertüte“ ins Leben gerufen. Mithilfe von Spenden sorgt sie dafür, dass die Jüngsten nicht gleich an ihrem ersten Schultag zu spüren bekommen, wie schmerzhaft der „Ernst des Lebens“ sein kann, sondern sich so ausgelassen über ihre Zuckertüte freuen können, wie die Kinder, die Michael Nitschke in den 1970er Jahren in Leipzig für seine Serie „Schulanfänger“ fotografierte.

„Aktion Zuckertüte" der AWO
 

Dass Schule nicht immer nur im Schulgebäude stattfinden muss, ist ja längst bekannt. Auch das Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) bietet sich als außerschulischer Lernort an. Sobald es wieder möglich sein wird, hoffen wir, die Stimmen zahlreicher Schülerinnen und Schüler im Museum zu hören und sie mit altersgerechten und spannenden Vermittlungsprogrammen für die Kunst zu begeistern. Weitere Informationen zu den Programmen finden Sie hier:

Unsere Vermittlungsprogramme für Schulen
und Bildungseinrichtungen