25. März 2022

Gerhard Marcks: „Alcina II“
Wer stand für die geheimnisvolle Zauberin Modell?

 

Viel häufiger, als gemeinhin zu erwarten ist, bergen Kunstwerke Rätsel und Geheimnisse – sei es, dass sie mit den Persönlichkeiten zusammenhängen, die sie schufen, oder mit den dargestellten Menschen oder Landschaften oder mit den Schicksalen des Kunstwerks selbst. Und oft genug erscheint zunächst alles ganz einfach, so wie in diesem Fall.

Eine Skulptur, geschaffen von Gerhard Marcks (1889–1981), heißt „Alcina II“ und es liegt nahe, diesen Namen mit der gleichnamigen Oper Georg Friedrich Händels (1685–1759) zu verbinden – nicht wenig verwunderlich in der Händelstadt Halle, in der Marcks von 1925 bis 1933 als Professor an der Städtischen Kunstschule Burg Giebichenstein lebte und arbeitete.

Aber betrachten wir zunächst die Skulptur selbst.

 

Gerhard Marcks: Alcina II, 1935, Steinguss, 114 cm, Dauerleihgabe, Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Foto: Wieland Krause © VG Bild-Kunst, Bonn 2022

 

Eine junge Frau tritt uns entgegen. Die leichte Drehung ihres Oberkörpers und der ausgestellte Fuß verleihen ihr eine verhaltene, fast zögernde Dynamik, während das knöchellange Gewand mit seinem sparsamen und strengen Faltenwurf die Senkrechte betont und den Eindruck von Ruhe und Sicherheit hervorruft. Ebenso widersprüchlich erscheint uns das Gesicht: Seine großen, ruhigen Flächen geben ihm Strenge – aber umspielt nicht den Mund ein leichtes Lächeln? Wer verbirgt sich hinter dieser beinahe sphinxhaften Gestalt, die in sich den Eindruck von Schüchternheit mit dem von Selbstsicherheit und verborgener Macht zu vereinen vermag?

Händels Oper bezieht ihren Stoff aus der italienischen Renaissance – aus dem Versepos „Der rasende Roland“ („Orlando furioso“) von Ludovico Ariosto (1474–1533). In der Alcina-Episode gelangt einer der drei Haupthelden des Epos, Ruggiero, auf die Insel der Zauberin Alcina, die sich in ihn verliebt. Sie hat die Macht, Menschen in Tiere oder Pflanzen zu verwandeln. Liebt sie einen ihrer Liebhaber nicht mehr, verzaubert sie ihn. Ruggiero ist der erste, den sie nicht als „Hexe“ liebt – darin, dass sie nicht als Mensch handeln und lieben kann, besteht ihre Tragik.

Dies ist aber allenfalls die inhaltliche Oberfläche dieser Skulptur. Denn jenseits der literarischen Vorlage handelt es sich um ein heimliches Porträt. In den 1930er Jahren entsteht eine große Zahl von Plastiken, denen Marcks Namen wie Leukothea, Demeter, Selene, Angela oder Seraphita gibt – Frauen aus Mythologie und Literatur, Wesen, die übernatürliche Kräfte besitzen und die zu lieben für die sterblichen Männer gefährlich ist, weil jene nicht von dieser Welt sind.

 

Gerhard Marcks: Alcina II, 1935, Steinguss, 114 cm, Dauerleihgabe, Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Foto: Walter Danz © VG Bild-Kunst, Bonn 2022

 

Alle Skulpturen tragen die Züge eines Modells, das Marcks während seiner Zeit als Professor in Halle kennenlernt. Trude Jalowetz (1910–1976) war seit 1931 Schülerin der Textilklasse, die von der Bauhäuslerin Benita Koch-Otte (1882–1976) geleitet wurde. Marcks ist von ihrer stillen Selbstbewusstheit ebenso wie von ihrer Schönheit fasziniert. Bis zur Mitte der 1930er Jahre entstehen Hunderte von Zeichnungen, oftmals als Vorstudien für plastische Werke. Für den Künstler ist sie bald mehr als nur ein Modell. Er macht sie zu seiner Muse – währenddessen sich die solcherart verehrte Person eher missverstanden und verkannt fühlte. Dennoch verband Künstler und Modell lebenslange Freundschaft. Zumal sie auch für andere Künstler der halleschen Kunstschule saß – so dem Maler Carl Crodel (1894–1973) und dem Fotografen Heinrich Koch (1896–1934).

 

Trotz mythologischer und literarischer Bezüge eignet allen diesen Marcks’schen Arbeiten große Porträt-Ähnlichkeit. Es sind gerade die individuellen Gesichtszüge – wie die Augenpartie mit den zusammengewachsenen Brauen –, die ihm in jedem Fall unverzichtbar erscheinen. Noch 1967 veröffentlicht er eine Auswahl seiner Zeichnungen in Buchform unter den Titel „Seraphita“.

Der öffentliche Erfolg beginnt ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da ihr jüdisches Modell emigrieren muss: Trude Jalowetz hatte 1933 – zusammen mit anderen Studentinnen und Lehrkräften „jüdischen Geblüts“ – die hallesche Kunstschule verlassen müssen. Sie zieht zunächst zu Verwandten nach Wien und findet im Herbst des Jahres Arbeit in einer Weberei bei Den Haag. Marcks besucht sie 1934 zweimal im niederländischen Exil, um weiter nach ihr zu zeichnen und zu modellieren. Aus einer Gruppe von Zeichnungen geht die Figur der Alcina hervor, die in drei Gussfassungen existiert, von denen die Zementgussversion im Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) die letzte ist.

 

Heinrich Koch: Portrait von Trude Jalowetz, 1929 –1934, Silbergelatine, 295 x 235 mm, Dauerleihgabe Arkudes Foundation, Köln, Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt

 

Im Mai 1940 überfällt Hitlerdeutschland die neutralen Niederlande – alle, die hier Exil gesucht hatten, sitzen nun in der Falle, weil sie der nationalsozialistischen Judenverfolgung schutzlos ausgeliefert sind. Trude Jalowetz überlebt den Holocaust im Versteck auf dem Land. Ihr Mann, der Bauhaus-Fotograf Paul Guermonprez (1908–1944), wird als führende Persönlichkeit des niederländischen Widerstandes hingerichtet. Sie siedelt nach Kriegsende in die USA über, wo sie in den 1970er Jahren zu einer der bekanntesten Textilkünstlerinnen wird.

Mehr über den Lebensweg dieser außergewöhnlichen Frau ist in dem Buch „Modell, Künstlerin und wahre Eva : das abenteuerliche Leben der Trude Guermonprez“ (von Albrecht Pohlmann, 2004) zu erfahren.