24. März 2023
Imperiale Kontinuitäten in der russischen Politik: Der Vertrag von Perejaslaw in der sowjetischen Medaillenkunst
Im Jahr 1721 geschah im zaristischen Russland etwas, das zunächst als Öffnung zum europäischen Westen hin gedeutet werden konnte. Peter der Große (1672–1725) gab sich, nach fast 40 Jahren Regierungszeit, den im russländischen Reich als „europäisch“ betrachteten Titel des Imperators und formte damit das bis dahin zaristische Reich zu einem Imperium um. Daraufhin entbrannte eine innenpolitische Debatte darüber, was dies eigentlich für das Reich und das russische Wesen an sich bedeuten könne. Gewonnen hat diese Fragestellung, betrachtet man die jüngsten Aggressionen und den Angriffskrieg auf die Ukraine, der panslawistische Politiker Nikolai Jakowlewitsch Danilewski (1822–1885), welcher im späten 19. Jahrhundert betonte, dass es unmöglich sei, Russland die Bildung von Kolonien vorzuwerfen, da alle Länder, die ringsherum lägen, von Natur aus zur russischen Einheit gehörten. Nicht umsonst wird Danilewski bis heute von russischen Präsidenten zitiert, zuletzt wiederholt von Vladimir Putin (* 1952), der mit derlei Ansichten, dass es keine natürlichen Grenzen mit der Ukraine, sondern vielmehr eine naturgegebene Einheit beider Länder gäbe, seinen Angriff auf die Ukraine rechtfertigte.
Im heutigen Blog-Beitrag betrachte ich die Kontinuitäten des panslawistischen Weltbildes, das seine Spuren in der sowjetischen Medaillenkunst hinterlassen hat. Vielerlei Exemplare sind in der Sammlung des Landesmünzkabinetts Sachsen-Anhalt im Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) erhalten. Betrachtet werden soll hier allerdings eine besondere Medaille aus dem Jahr 1954.
Zu sehen ist eine kleine Kupfermedaille mit 50 mm Durchmesser. Gestaltet wurde sie von drei verschiedenen Medailleuren der Leningrader Münze, V. M. Akimushkina, A. I. Reznichenko und I. P. Khotinok. Sie ist zweiseitig mit reliefierten Motiven versehen. Die dargestellten Ereignisse „erinnern“ in ihrer Umschrift an eine 300-jährige „Wiedervereinigung“ der Ukraine mit Russland. Gemeint ist hierbei die Vertragsschließung von Perejaslaw im Januar 1654. Damals schlossen sich aufständische Kosaken, die sich gegen polnische Machtansprüche wehrten, in der Stadt Perejaslaw zu einem Rat zusammen und leisteten in Anwesenheit des russischen Bojaren Wassili Buturlin († 1656) einen Treueeid auf Zar Alexei I. (1629–1676).
Auf der Medaille ist die Schließung des Vertrages dargestellt. Die Umschrift ist sowohl auf Russisch, als auch auf Ukrainisch verfasst, was eine Gleichberechtigung und Zweisamkeit betonen soll. Rückseitig sind sowohl die russische als auch die ukrainische Seite porträtiert, indem sich Bohdan Chmelnyzkyj (1595–1657), kosakischer Heerführer, und Wassili Buturlin „brüderlich“ die Hände reichen. Umringt sind sie von ihren jeweiligen Gefolgsleuten. Erkennbar sind die Personen an ihren Trachten und den markant dargestellten Gesichtszügen.
Auf der Vorderseite soll die Freundschaft und Brüderlichkeit abermals betont werden. Hier sind es allerdings nur vier Personen, die zu sehen sind. Die ukrainische Seite wird wieder in traditioneller Tracht dargestellt, während die russische Seite durch einen Mann im modernen Anzug repräsentiert wird. Zu den jeweiligen Seiten steht je eine Person in soldatischer Kleidung der Zeit um 1654, jedoch ohne Bewaffnung, sondern mit Geräten zur Feldarbeit. Wer sich hier an die Friedensparole „Schwerter zu Pflugscharen“ erinnert fühlt, liegt ganz richtig, denn der permanente freiwillige Frieden wird hier durch die Bäuerlichkeit der beiden Soldaten abermals betont. Im unteren Vordergrund ist das Wappen der Ukrainischen SSR zu erkennen, während hinter den beiden Protagonisten die Mauern des Moskauer Kreml aufragen.
Zum historischen Hintergrund
Der historische Hintergrund, welcher zum Vertragsabschluss von Perejaslaw führte, war die Herrschaft des Königreichs Polen-Litauen, welche seit 1569 das Gebiet der heutigen Ukraine beinhaltete und zu einer starken Diskriminierung der ruthenischen (ukrainischen) Bevölkerung geführt hatte. Die saporogischen Kosaken verbanden sich unter Bohdan Chmelnyzkyj, dem Hetman der Kosaken, zu einer einheitlichen Bewegung. Daraufhin kam es zum sog. Chmelnyzkyj-Aufstand, welcher von 1648 bis 1657 dauerte. Der Hetman war der zweithöchste Dienstgrad im Militär der Kosaken und kann mit der Befehlsgewalt eines Feldmarschalls verglichen werden. Abgeleitet wird das Wort aus dem Altmittelhochdeutschen und entspricht dem „Hauptmann“.
Im Zuge der Kämpfe kam es zu einer Vielzahl antisemitischer Pogrome, da jüdischen Kaufleuten oft Kollaboration mit dem polnisch-litauischen Adel unterstellt wurde. Jenseits dieser Gräuel erhoffte man sich vom russischen Zaren Alexej I. militärische Unterstützung. Der Zar wurde vertraglich zur Kriegserklärung gegen Polen-Litauen verpflichtet, dem er auch nachkam und den Russisch-Polnischen Krieg eröffnete, welcher bis 1667 andauerte und erst mit der Pattsituation im Ewigen Frieden von 1686 endete. Die Ereignisse stehen dabei beispielhaft für die langwierige Rivalität um die ruthenischen Gebiete.
In der Geschichtsschreibung beider Länder sind die Ereignisse von Perejaslaw sehr unterschiedlich ausgelegt worden. Während man sich in Russland ganz an der bürgerlichen vorrevolutionären Geschichtsschreibung orientierte und den Vertrag als Aufhebung der „unnatürlichen“ Trennung ansah, war man in der Ukraine der Ansicht, dass die Kosaken in Perejaslaw betrogen wurden, da die Vertragsschließung als zeitlich begrenzt betrachtet angesehen wurde. Die Formierung der Ukraine zu einem zaristisch imperialen Vasallen sei daher vertragswidrig gewesen. Unter Betrachtung der Ereignisse seit 2014 ist es fast zynisch, dass der sowjetische Premier Nikita Chruschtschow (1894–1971) ausgerechnet zum Anlass der 300-Jahrfeier von Perejaslaw der damaligen Ukrainischen SSR die Halbsinsel Krim als Geschenk gab – als Betonung des Friedens und der Brüderlichkeit.
Die Medaille ist nicht das einzige Beweisstück für die, aus heutiger Sicht, fragwürdige Haltung der UdSSR zur Frage von Perejaslaw. Das Ereignis wurde 1954 mit einer Festschrift des Politbüros der KPdSU in der Propaganda des Staates fest verankert und bis ins letzte Detail ausgeschlachtet. So haben sich Postkarten, Anstecker, militärische Orden und Gemälde aus diesem Jahr erhalten, welche allesamt an die Ereignisse von 1654 bzw. 1954 im Sinne der vorgegebenen Geschichtsschreibung erinnern sollten. Somit ist die Medaille kein Einzelstück, sondern vielmehr ein propagandistisches Massenprodukt.
Diese Medaille teilt sich ihr Schicksal mit einer Vielzahl anderer Exemplare der sowjetischen Medaillenkunst. Für nahezu jede sowjetischen Teilstaat gab es entsprechende Stücke, die entweder von einem „freiwilligen Beitritt“ oder einer längst überfälligen „Wiedervereinigung“ sprachen. Dass die entsprechenden Ereignisse allesamt wenig mit Freiwilligkeit, sondern mit Zwang verknüpft waren, wird dabei selbstredend verschwiegen, eine politische Grundhaltung, die sich exemplarisch beim Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 wiederholt. Es scheint ganz so zu sein, dass seit 1721 der gleiche imperiale Anspruch die russische Außenpolitik bestimmt: Alle Nachbarn gehören zu einem russischen Staat und angeblich würden sie auch gern dazu gehören. Mit dieser außenpolitischen Grundhaltung ist es einfach, sich als „Retter“ eben jener Staaten zu präsentieren. Da wird ein barbarischer und völkerrechtswidriger Angriffskrieg schnell zur „militärischen Spezialoperation“.
Am Beispiel der beschriebenen Medaille zeigt sich, dass diese Stücke bis heute vielfältige Funktionen haben können. Sei es als Werkzeug der politischen Propaganda zum Zeitpunkt der Herstellung oder aber als Mahnmal für Ungerechtigkeit und Unterdrückung, insofern die Medaille aus der heutigen Zeit betrachtet wird. Sie ist ein Beispiel dafür, wie sich politische Vorstellungen von staatlicher Seite aus in der Medaillenkunst niederschlagen können, und zeigt auf, wie perfide die sowjetische Propaganda einst gewesen und die Russlands heute ist.