21. April 2020
Von Halle nach London und zurück
oder
Doch kein Händel
Zum 94. Geburtstag von Queen Elizabeth II.
#closedbutopen
Als wir das Thema für den heutigen Tag festlegten, nahmen wir an, mit einer Zeichnung nach einem Stich des Engländers William Hogarth das passende Objekt in unserer Sammlung gefunden zu haben:
Bei genauerer Betrachtung stellte sich allerdings heraus, dass das Blatt einige Ungereimtheiten und somit Fragen aufwirft, denn es hat nichts direkt mit dem Sohn unserer Stadt zu tun. So gibt unser heutiger Blog einen Einblick in die mitunter fast kriminalistischen Züge musealer Sammlungsarbeit und der Erforschung unserer Sammlungsbestände.
Inventarisiert wurde die 1938 aus Leipziger Privatbesitz erworbene Federzeichnung mit dem Titel Händel im Kreis seiner Sänger. Unsere Recherchen ergaben allerdings, dass das Blatt nicht den aus Halle stammenden Georg Friedrich Händel (1685–1759) zeigt. Vielmehr handelt es sich um eine Zeichnung nach einem Stich von William Hogarth (1697–1764), der eine Probe des Oratoriums Judith im Jahre 1732 darstellt. Verfasst wurde dieses von Willem de Fesch (1687–1761) nach einem Libretto von William Huggins (1696–1761). Und de Fesch ist der Link zu “unserem” Händel, denn er spielte in Händels Londoner Orchester Geige und ist bei seinen eigenen Kompositionen sicher von denen Händels beeinflusst worden, zumal Händel die Form des Oratoriums überhaupt erst nach London brachte.
Willem de Feschs Judith wurde am 16. Februar 1733 im Londoner Lincoln’s Inn Fields Theatre uraufgeführt, erwies sich jedoch als großer Flop und musste sogar während der Aufführung abgebrochen werden. De Fesch versuchte in der Folge, sein Oratorium zumindest in Papierform in die Öffentlichkeit zu bringen. Doch auch hier blieb der erhoffte Erfolg trotz Hogarth’schem Frontispiz aus.
Zum Verhältnis zwischen Händel und de Fesch schreibt Rudolf Rasch 2001 in seinem Beitrag in Die Musik in Geschichte und Gegenwart: "Als Geiger errang er sich einen festen Platz im Londoner Musikleben [...] Auf Händels erstes englisches Oratorium Esther (1732) ließ de Fesch sein eigenes Oratorium Judith (1733) folgen. Erst 1745 folgte noch ein zweites Oratorium, Joseph. Auch dies kann als Antwort auf ein Händel-Oratorium, Joseph and his Brethren (1744 aufgeführt), angesehen werden. Von einer Rivalität zu Händel kann dennoch keine Rede sein: 1746 war de Fesch Konzertmeister in Händels Orchester." (Personenteil Band 6, Sp. 1066-1068).
Sehr erfolgreich hingegen war ein kleines grafisches Blatt, welches Hogarth 1732 als Subskriptionsschein herausbrachte. Für 5 Schilling berechtigte es den Besitzer zum Erhalt des aufwendigen Hogarth-Stiches A Midnight Modern Conversation (1733). Der untere Teil des Blattes mit dem Subskriptionstext, der Angabe des Namens des Subskribenten und des Datums der Subskription wurde später entfernt. Heute ist er nur noch selten erhalten. Die kleinformatige Grafik schien sehr beliebt gewesen zu sein, denn schon wenige Jahre später ist sie zusammen mit drei anderen Werken Hogarths in der 1737 erschienen Serie Four Groups of Heads neu gedruckt worden.
Das Blatt trägt den Titel The Chorus of Singers (or the Rehearsal of the Oratorio ‚Judith‘) und zeigt in karikierender Form eine Gruppe von ekstatisch probenden Sängern. Über dem Geschehen thront der Kapellmeister, der im Überschwang seines Dirigierens bereits seine Allongeperücke eingebüßt hat. Vermutlich handelt es sich hier um de Fesch selbst, der die Proben an seinem Werk leitet und überwacht. So blicken die 16 Sänger verschiedenen Alters, darunter auch drei kleine Jungen, mehr oder weniger auf ihre Notenblätter und singen.
Genau an dieser Stelle unterscheiden sich der kleinere Originalstich und die meisten der vielen Nachstiche von der mit dem Originalstich im Format übereinstimmenden halleschen Zeichnung in etwas ganz Wesentlichem. Während die Beschriftung der Notenblätter mit einer Textzeile des Oratoriums und dem eindeutigen Hinweis auf das Oratorium auf dem Blatt vor dem Dirigenten im Original deutlich zu sehen ist, fehlt der Federzeichnung dieser Hinweis. Außerdem folgen die Noten einer anderen Anordnung als in der Vorlage. Derzeit prüfen wir gemeinsam mit den Kollegen vom Händel-Haus in Halle, ob es sich bei der Musik auf unserer Zeichnung um Auszüge von Kompositionen Händels oder de Feschs handelt.
Eine Verbindung zur Vorlage gibt die Bezeichnung „December 22th 1732 Wm: Hogarth“, die nicht von der Hand Hogarths stammen kann, was der Vergleich der Handschriften belegt. Die gleiche Beschriftung findet sich auf zwei weiteren Zeichnungen: einer wesentlich größeren, die 2014 im italienischen Kunsthandel auftauchte, und einer, die im September 1930 im Rahmen der Auktion der Sammlung des Wismarer Justizrates Lembke in Hamburg versteigert wurde. Alle drei Zeichnungen stehen eindeutig miteinander in Verbindung und müssen sich auf dieselbe Vorlage beziehen, und zwar einen der Hogarth’schen Subskriptionsscheine, der am 22. Dezember 1732 ausgestellt wurde.
In den Gesamtausgaben des grafischen Werks von William Hogarth taucht natürlich auch der Chor der Sänger immer wieder auf – meist in verkleinerter Form neu gestochen. So u. a. von Thomas Cook (1744–1818), der zu Beginn des 19. Jahrhunderts für die Ausgabe Hogarth Restored alle Grafiken neu fertigte. Daneben gibt es andere Künstler wie William Dent (tätig in London zwischen 1783 und 1793) und bisher noch Unbekannte, die diesen Stich nach Hogarths Tod kopierten.
Im deutschsprachigen Raum erlangte Hogarths grafisches Werk durch Georg Christoph Lichtenbergs (1742–1799) Ausführliche Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche Bekanntheit, die in insgesamt 13 Lieferungen mit ebenfalls verkleinerten Stichen nach den Originalen zwischen 1794 und 1799 herausgegeben wurde. Die Erstveröffentlichung der achten Lieferung bespricht den Chor der Sänger und zeigt die Stiche von Ernst Ludwig Riepenhausen (1762–1840). Eine spätere Auflage von 1820 des gleichen Titels enthält die Arbeiten von Carl Heinrich Rahl (1779–1843). Die letzten Stiche nach den originalen Druckplatten wurden 1822 von William Heath herausgegeben. Bei allen späteren Werken handelt es sich um Nachstiche, von denen jedoch keiner der Zeichnung in unserer Sammlung entspricht.
Zu welchem Zeitpunkt in der Überlieferung des Originalmotivs von Hogarth aus London nach Deutschland die Beziehung zu Händel hergestellt wurde, ist derzeit nicht bekannt. Offenbar war es aber sehr beliebt, was Kopien als Gemälde oder Verzierung einer Schnupftabakdose nahelegen. Vielleicht vermutete man im 19. Jahrhundert, dass ein Oratorium Judith im Londoner Umfeld William Hogarths nur von Georg Friedrich Händel stammen könne, denn die Wiederentdeckung des Händel’schen Werks, vor allem seiner Opern, setzte erst vor genau 100 Jahren ein mit der Wiederaufführung seiner Oper Rodelinda 1920 in Göttingen. Davon berichtet die Jahresausstellung im Händel-Haus in Halle.