20. November 2020

„... und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar“

 

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Der Mond ist aufgegangen, Gesang: Calmus-Ensemble, Text: Matthias Claudius (1779), Melodie: Johann Abraham Peter Schulz (1790), Youtube-Video

Wer kennt nicht diese letzten Zeilen aus der ersten Strophe des Abendliedes von Matthias Claudius (1740–1815). Wohl kaum plastischer, als es in dem bekannten und beliebten Volkslied aus der Romantik beschrieben ist, kann man sich die Szene einer nebeligen Abendstimmung vorstellen.

Dass Nebel physikalisch dabei eigentlich nur eine besondere Form des Niederschlages ist, bei der kleinste Wassertröpfchen, auch als Aerosole bezeichnet, durch Kondensation des Wassers in der feuchten und übersättigten Luft entstanden sind, ist nur die naturwissenschaftliche Erklärung dieses Wetterphänomens. Zwar tritt der Nebel auch zu anderen Jahreszeiten und äußerst facettenreich auf, aber im Herbst, vor allem im November, ist er doch am geheimnisvollsten. So lässt er die Konturen sanfter, weicher erscheinen, bei sehr dichtem Nebel auch sich fast auflösen. Die Farben treten nicht mehr intensiv vor Augen, sondern sind durch einen hellen oder grauen Schleier getrübt. Die verkürzten Tage des Novembers bieten bei bestimmten Wetterbedingungen dann auch mitunter dieses stundenlange, manchmal noch warme, feuchte Wattegefühl, das zudem die Akustik zu dämpfen scheint.

 

Vor allem (Amateur-)Fotografen haben versucht, dieses Naturphänomen auf ihre Filme zu bannen. So gelingt es Karl-Heinz Blei (*1939) in seiner s/w-Aufnahme eines bewaldeten Mittelgebirges, auch einzelne Wassertröpfchen wiederzugeben, die sich als verschwommene Kristalle auf das Objektiv gesetzt haben und sich vor dem dunklen Vordergrund abheben. Dabei ist der Kontrast zwischen verschwommener Nahaufnahme der Tröpfchen und der Fernsicht der sanften Hügelkette, aus der sich der Nebel erhebt, in spannungsreiche Beziehung gesetzt. Auch die Körnung, die beim Entwicklungsvorgang entstanden ist, verstärkt die optische Spannung zwischen Einzelpunkten und weichen Abschattierungen.

Auch der tschechische Fotograf Jiří Bartoš (*1936) ist dem Nebel auf der Spur. Das Foto zeigt im Vordergrund drei dunkle Baumstämme vor dem durch Nebel im Hintergrund erhellten Nadelwald. Bewusst wird mit dem Unheimlichen dieser Nebelstimmung gespielt, das durch das Vanitas-Motiv des abgestorbenen Baumstammes in der Mitte der Baumgruppe entsteht. Der Wald erhält etwas Geheimnisvolles, Undurchdringliches und auch Märchenhaftes.

 

 

Dem Lichtphänomen ist Karl-Heinz Blei auch in seinem Foto Nebelige Nacht hinterher. Es zeigt eine auf einem Hügel liegende Ortschaft in der Dunkelheit, die von verschiedenen Lichtquellen erleuchtet wird. Neben relativ klar umrissenen erleuchteten Fenstern sind die Lichtquellen, vielleicht hohe Straßenlaternen, über den Häusern von einem Lichthof umgeben. Demgegenüber steht das Licht im Zentrum des Fotos, vielleicht ausgelöst durch große Fluter, die ein Flächenlicht erzeugen, das prismatisch gegliedert ist. Das Foto erinnert ein wenig an Lyonel Feiningers Gemälde Nächtliche Straße (Beleuchtete Häuserzeile I), das er bei seinen Streifzügen durch die Stadt Dessau zunächst ebenfalls als fotografisches Motiv entdeckte, bevor er es in Malerei umsetzte.

 

Der Nebel löst nicht nur in der Natur melancholische Stimmungen aus, in der Stadt kann er durchaus niederdrückend wirken. Sabine Bieligh (Lebensdaten unbekannt) fängt dieses Gefühl in einem Foto ein, das in Frankfurt (Oder) in den 1980er Jahren entstanden ist. Auf einer im winterlichen Dunst verschwindenden Straße läuft eine Person mit zwei Eimern in den Händen. Vielleicht trägt sie den Hausmüll oder die Asche des Kohleofens hinaus zu den noch als Schemen erkennbaren Mülltonnen. Man kann den mitunter beißenden Geruch des Rauches aus tausenden Schornsteinen, vor allem bei Inversionswetterlagen, förmlich riechen. Gefangen ist die Person linkerseits von einer undurchdringlichen Mauer und rechts von einer sich ihr zuneigenden, hohen Straßenlaterne. Dieses Setting mag gut als Erinnerungsbild dienen, das die abgewirtschafteten und trostlosen letzten Jahre der DDR wiedergibt.

 

 

Manfred Butzmanns (*1942) Nebeltag ist ein Blatt aus der Mappe Eindrücke, in der er seine Erfahrungen während seiner Zeit bei der Nationalen Volksarmee verarbeitete. Die Blätter sind erste Innenansichten des Soldatenlebens in der DDR überhaupt. Der Nebeltag zeigt einen menschenleeren Appellplatz, der von zwei dunklen Kasernengebäuden begrenzt ist. Die Lücke zwischen den Gebäuden lenkt den Blick zu schemenhaft erkennbaren weiteren Gebäuden im Hintergrund, die der Nebel verschluckt hält. Ein beklemmendes Gefühl stellt sich bei dieser Leere ein, das verstärkt wird, durch die tief gesetzte Horizontlinie und die sich übermächtig erhebenden beiden Gebäude. Der Nebel ist als zart abschattierte Folie eingesetzt – hier eignet sich die Aquatintatechnik (Kornätzverfahren) mit ihren feinen Nuancierungsmöglichkeiten und dem Reichtum an Halbtönen besonders gut – und verstärkt das bleierne Einsamkeitsgefühl.

 

 

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Hermann Hesse Im Nebel, Rezitation: Otto Sander, "Die Lieblingsgedichte der Deutschen“, Patmos Verlag, Youtube-Video

 

Einsamkeit, Melancholie, Unschärfe und Orientierungslosigkeit – das Wörtchen „Nebel“ bietet selten positive Assoziationen. Auch das Gedicht Im Nebel von Hermann Hesse (1877–1962) fängt die beängstigende Stimmung ein, die ein Wandern/Leben mit geringer Sichtweite bewirken kann. Mit einem nebulösen Unsicherheitsgefühl haben wir derzeit alle zu kämpfen – konzentrieren wir uns daher auf das Wesentliche und betrachten !nebeL besser auch von der anderen, wunderbaren Seite!

 


London ist allzusehr erfüllt von Nebel und ernsthaften Leuten.

Ob die Nebel die ernsthaften Leute oder die ernsthaften Leute die Nebel hervorbringen, weiß ich nicht genau.

Oscar Wilde

Novembertag

Nebel hängt wie Rauch ums Haus,
drängt die Welt nach innen;
ohne Not geht niemand aus;
alles fällt in Sinnen.

Leiser wird die Hand, der Mund,
stiller die Gebärde.
Heimlich, wie auf Meeresgrund,
träumen Mensch und Erde.

 

Christian Morgenstern