19. Februar 2024

Wir trauern um Helga Paris
(1938–2024)

 

Helga Paris ist eine der großen Fotokünstlerinnen der ostdeutschen Kunst. Als Meisterin der poetischen Tristesse fand sie ihre Motive in den Menschen und deren Alltagswelt, den Häusern, den Straßen und in den Landschaften. Ihre Fotos gehen aber weit über eine bloße Chronik der DDR hinaus. Erfahrungen und Gefühle sprechen aus ihren Bildern, ohne anklagend oder sentimental zu sein. Am Montag, dem 5. Februar 2024, verstarb die Fotografin im Alter von 85 Jahren in Berlin.

 

Helga Paris: Ohne Titel (Selbstporträt-Serie), Silbergelatine/Kontaktabzug, Dauerleihgabe Fotokinoverlag Leipzig, Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt © Nachlass Helga Paris

 Helga Paris
 

1938 geboren als Tochter von Gertrud Steffens und Wilhelm Steffens in Gollnow in Pommern (heute Goleniów, Polen)
1945–56 Jugend in Zossen bei Berlin, 1956 Abitur
1956–60 Studium an der Ingenieurschule für Bekleidung, Berlin Fachrichtung Modegestaltung
1961 Heirat mit dem Maler Ronald Paris
1967 Beginn der fotografischen Arbeit als Autodidaktin
1971–80 Theaterfotografie von Proben und Aufführungen an der Volksbühne und am Deutschen Theater Berlin
1972–90 Mitglied des Verbandes Bildender Künstler der DDR (VBK)
1975 Scheidung von Ronald Paris. In den folgenden Jahren entstehen neben Einzelbildern viele thematische Serien.
1996 Mitglied der Akademie der Künste, Berlin
1999–2009 Lehrauftrag an der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft
2004 Verleihung des Hannah-Höch-Preises der Berlinischen Galerie
2011 Ende der fotografischen Arbeit
2019 Schenkung ihres gesamten Negativ-Archivs an die Akademie der Künste, Berlin.
Kulturpreis der Deutschen Gesellschaft für Photographie e. V. als „Hochverdiente Chronistin ihrer Zeit”.
2024 Helga Paris stirbt in ihrer Wohnung am Prenzlauer Berg.

Ausgewählte Serien
 

1974 Müllfahrer
1975 Berliner Kneipen
Möbelträger
1980 Siebenbürgen
1981  Berliner Jugendliche
1984 Frauen im Bekleidungswerk Treff-Modelle
1983–85 Häuser und Gesichter, Halle
1993/94 Friedrichshain
Erinnerungen an Z.
1995 Veteranen
Il Legionario
1996 Podróż Polska (Polnische Reisen)
1998 Peripherie als Ort
1999–2011 Mein Alex

 

Die Geschichte der Wahl-Berlinerin Helga Paris und der Stadt Halle (Saale) begann 1983. Angeregt durch den Fotografen Arno Fischer (1927–2011), die DDR im Sinne der amerikanischen Farm Security Administration ab den 1930er Jahren sozialdokumentarisch zu fotografieren, wählte Helga Paris die Saalestadt. Zudem hatte ihre Tochter Jenny dort ein Studium an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle begonnen.

 



Ich habe Halle fotografiert wie eine fremde Stadt in einem fremden Land – Versuch, alles, was ich wissen und verstehen könnte zu vergessen. So als hätte ich beispielsweise in Rom fotografiert.

Helga Paris, 1986

 

Zwischen 1983 und 1985 entstand also in Halle (Saale) die Serie „Häuser und Gesichter“. Zunächst fing sie Momentaufnahmen des städtischen Lebens ein und fokussierte sich auf Straßenzüge mit Passantinnen und Passanten. Die nicht immer wohlwollende Reaktion der sich ertappt fühlenden fotografierten Personen ließ Helga Paris die Herangehensweise ihres Projekts überdenken. Sie trennte nun die Architekturen und die Porträts. Den Moment zwischen der Kontaktaufnahme mit den Menschen und dem Drücken des Auslösers begrenzte sie dann ganz bewusst: Die Porträtierten wirken offen und authentisch, scheinen innezuhalten, manche posieren stolz herausfordernd oder lächelnd. Die Porträts zeigen nicht nur die damalige Mode (Kittelschürze) oder Frisurentrends (Dauerwelle), vielmehr spiegeln sie ein Gesellschaftsgruppenbild mit individuellen Charakteren. Die frechen Kinder, die fröhliche Eisverkäuferin, die müden Arbeiter, der melancholisch dreinblickende alte Mann, die genervte Frau, die jungen Punks – all diese Menschen scheinen wir zu kennen, mindestens sind sie uns nah.

 

 

Die fotografierten Häuser und Straßenzüge legen Zeugnis ab von der Vernachlässigung der alten Bausubstanz durch die SED-Administration: Der Putz bröckelt, einige kaputte Fenster scheinen schon lange auf eine Reparatur zu warten, Straßenschäden offenbaren sich zuhauf. Den Verfall, die Vernachlässigung, das Morbide der Altstadt thematisierte Helga Paris, wohl wissend, dass die Politik den Abriss zugunsten des Plattenbaus bevorzugte. Die Fotografien zeigen aber mehr. Die Sonne scheint in Halle (Saale) nicht. Ein diesiger Schleier kriecht in die Schluchten der Stadt. In den Pfützen auf den Straßen spiegelt sich nur die dichte Wolkendecke. Die Industrie hat die Stadt traurig gemacht. Alles ist grau (daher die markante Bezeichnung von Detlef Opitz für Halle (Saale) als „Diva in Grau“). Zeitlebens blieb Helga Paris der Schwarzweiß-Fotografie treu. Die nuancierten Töne von Weiß bis Schwarz boten die Gelegenheit, jene Stimmung der Saalestadt in ihrer ganzen tristen Bandbreite abzubilden.

 



Februarabend in H.

Verflüssigte Luft. Die Wolken
Frühlingshaft nah. Die Stadt
Eine alte
Vettel. Wir gingen und sprachen
Über die Brüchigkeit
Unseres Daseins: keine Kontinuität,
Außer der
Des Verfalls. Das
Bezeugten, unwiderlegbar,
Die Häuser.

Heinz Czechowski

 

1986 sollte die Serie „Häuser und Gesichter“ zum 1.025-jährigen Stadtjubiläum in der Galerie im Marktschlösschen ausgestellt werden. Ein Ausstellungskatalog wurde mit einer Auflage von 1.100 Exemplaren gedruckt. Der Rat des Bezirks und der Stadt äußerte allerdings Bedenken und forderte, den von Helmut Brade verfassten Text im Buch zu ändern. Aus „Die Stadt ist grau, die Luft schwer, der Fluß dunkel“ wurde beispielsweise „Die Stadt ist zuweilen grau, die Luft manchmal schwer, der Fluß etwas dunkel“. Doch auch diese abgemilderte Version stieß bei der Politik auf Widerstand. Letztendlich wurde nicht nur die Druckgenehmigung verweigert, sondern auch die Ausstellung abgesagt. Helmut Brade schrieb 2006 rückblickend:

 



Heute endlich verstehe ich, daß sie die für die damalige Gesellschaft Verantwortlichen entsetzt haben. Heute endlich sehe ich, was sie damals gesehen haben, nämlich etwas, das im völligen Gegensatz stand zu ihrem Traum von einem schöneren Leben. Sie schämten sich für das, was sie sahen und was sie schließlich zu verantworten hatten.

Helmut Brade, 2006

 

Noch im Mai 1989 gelang es dem Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) die ganze Serie von 101 Fotografien anzukaufen und 1990, also erst nach dem Mauerfall, konnten die Bilder schließlich in der Galerie im Marktschlößchen inklusive Katalog ausgestellt werden. In etwa fünf Wochen besuchten 16.000 Menschen die Schau. Nach dem Eklat war das ein Riesenerfolg. 2026, zum 40. Jahrestag einer nicht stattgefundenen Ausstellung, werden wir die Serie „Häuser und Gesichter“ von Helga Paris in unseren Räumen präsentieren.

 

 

Helga Paris’ Fotokunst besteht selbstredend nicht aus einer Serie. Vor allem in ihrem Wohnort Berlin entstanden sensible Serien von „Müllfahrer[n]“, Besucherinnen und Besuchern von „Berliner Kneipen“ oder starke Arbeiterinnenporträts aus dem VEB Treff-Modelle, wo Helga Paris einst ein Praktikum im Rahmen ihres Studiums für Modegestaltung absolvierte. Bei ihren Reisen nach Siebenbürgen, Polen, Moskau, Italien, New York und an vielen anderen Orten zeichnete sie mit ihrer Kamera voller Empathie Menschenbilder. Sie erlernte die Fotografie autodidaktisch, folgte keiner stilbildenden Fotoschule oder irgendeinem Trend. Als sie 2011 aufhörte zu fotografieren, sagte sie, sie habe „alles gesehen, alles fotografiert und registriert. Die Erregung ist weg, in mir ist es still und friedlich, ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte.“

Zur Vertiefung

Publikation

Häuser und Gesichter. Halle 1983–85. Foto­grafien von Helga Paris


hrsg. vom Verband Bildender Künstler der DDR, Halle 1986 (Ausst.kat.)

Publikation

Diva in Grau. Häuser und Gesichter in Halle. Foto­grafien von Helga Paris


hrsg. v. Jörg Kowalski und Dagmar Winklhofer, Halle 1991 (Ausst.kat.)

Publikation

Helga Paris. Fotografien


hrsg. v. Inka Schube für das Sprengel Museum Hannover, Hannover 2004 (Ausst.kat.)