19. August 2022
Entdeckt: Jurij Ivanovič Gobanov in der Grafischen Sammlung
Seit Ende Mai arbeitet die in Deutschland lebende ukrainische Kunsthistorikerin Tetiana Shkolna ehrenamtlich im Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale). Hier lernt sie die Abläufe in einem deutschen Museum kennen und übernimmt verschiedene Aufgaben in den einzelnen Sammlungen. Für die Grafische Sammlung hat sie sich mit einem Konvolut des russischen Malers Jurij Ivanovič Gobanov (1941–2016) beschäftigt, das der Künstler 2009 dem Museum, als Ergänzung zu einem 1988 erfolgten Gemäldeankauf, schenkte.
Frau Shkolna übernahm es, die Werke final zu inventarisieren, was ihr aufgrund ihrer Russisch-Kenntnisse ein Leichtes war – etwa die Titel und weitere Werkangaben zu lesen und zu übersetzen. So können diese Werke sowohl den Museumsmitarbeitern erschlossen als auch weiteren Kreisen bekannt gemacht werden. Bei den geschenkten 20 Werken handelt es sich ausnahmslos um kleinformatige Ölskizzen, deren Motive – Blumen, Pflanzen und Architekturen – den Charakter neoimpressionistischer Malerei erkennen lassen.
Gobanov gehörte als Künstler zu den vielfältigen Gruppen und Schulen der nonkonformen sowjetischen Kunstszene, die sich ab den 1960er Jahren vor allem in den großen Kunstzentren Leningrad (heute Sankt Petersburg) und Moskau abseits des offiziellen Kulturbetriebs und des Sozialistischen Realismus gebildet hatte. Der in Syktywkar (Hauptstadt der heutigen Republik Komi im russischen Föderationskreis Nordwestrussland) geborene Gobanov hatte zunächst Sprache und Literatur am Pädagogischen Institut in Archangelsk studiert, bevor er sich der bildenden Kunst zuwandte. Er studierte 1972 und 1973 Malerei im Leningrader Atelier von Wladimir Sterligov (1904–1973), der ein Schüler und Mitarbeiter von Kasimir Malewitsch (1879–1935) war.
Sterligov gilt als letzter Künstler der klassischen russischen Avantgarde und hatte schon 1934 Schüler um sich versammelt und unterrichtete sie in avantgardistischen Kunsttheorien und -strömungen der Moderne, wie dem Neoimpressionismus, Kubismus, Rayonismus, Kubofuturismus, Suprematismus oder der Analytischen Malerei. Bereits 1932 wurden Künstlerverbände und Kunstrichtungen der russischen Avantgarden per Beschluss der Kommunistischen Partei verboten – bis auf den Sozialistischen Realismus, mit dessen Hilfe die Ideologie Josef Stalins (1878–1953) unterstützt und propagandistisch verbreitet werden sollte. 1934 begann die „Säuberung“ der geistigen Eliten durch Stalins Apparat, der im Dezember 1934 zusammen mit weiteren russischen Künstlern auch Sterligov zum Opfer fiel. Für mehrere Jahre wurde er in ein Arbeitslager nach Karaganda (Kasachstan) verbracht. 1945 konnte er nach Leningrad zurückkehren, durfte aber weder öffentlich lehren noch ausstellen. Dennoch begann er, auf Grundlage der russischen Avantgarden, vor allem Malewitschs Theorien des Suprematismus und Michael Matjuschins (1861–1934) wissenschaftlicher Erforschung der organischen Kunst, sein eigenes „malerisch-plastisches System“, die sogenannte cup-cupola (offene Kelch-oder Kuppelform) zu entwickeln und sein künstlerisches Werk neu zu schaffen sowie ab den 1960er Jahren in einer kleinen inoffiziellen Malschule Schülern zu vermitteln.
Sterligov entwickelte ein eigenes räumliches System, bei dem rationale Konstruktion mit den Aspekten der organischen Perzeption künstlerisch verschmelzen sollte: „Ich studierte mit Malewitsch, und nach seinem Quadrat setzte ich die Kelchform. Wie eine Idee ist diese eine offene Form, sie wird niemals enden, sie ist unendlich."* Vor allem ging es ihm dabei um das wechselseitige Verhältnis von Innen und Außen, zwischen Körper und Raum und um die Möglichkeit, die Existenz eines leeren Raumes, das Unsichtbare, malerisch auszudrücken. Dabei suchte er auch seinen Schülern, das Verständnis zu vermitteln, dass der schöpferische Akt, die Kunst, der Ursprung von Spiritualität und Moral sei – in Zeiten von äußerer Bevormundung konnte so ein Ausweg zur inneren Freiheit gefunden werden.
Die Malereien seines Schülers Gobanov, die sich heute in der Grafischen Sammlung des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale) befinden, gehen vom Natureindruck aus, suchen aber die Möglichkeit, das Mystische oder Spirituelle einzufangen. Die Motive sind mit meist lockeren, kleinteiligen Pinselstrichen additiv aufgebaut. Festgefügt werden die Farbpunkte und -flächen durch eine gitterartige Struktur aus Bleistiftlinien, die dem Motiv die nötige Spannung und Dynamik geben. Trotz aller Abstraktion ist die Nähe zum Gegenstand spürbar, die aufgesetzten Farbpunkte und Pinselstriche lassen die Bildfläche vibrieren. Zwar nicht seriell im strengen Sinne lassen sich unter den geschenkten Blättern Pendants aus jeweils zwei oder drei Arbeiten zuordnen, sodass der Gedanke einer Weiterführung oder Varianz eines Motivs naheliegt.
Vor allem ab der Zeit der Perestroika waren Werke Gobanows verstärkt in Ausstellungen zu sehen, zunächst in den russischen Zentren, wie Leningrad bzw. Sankt Petersburg und Moskau. Ab den 1990er Jahren wurden seine Werke auch in anderen Städten, wie Oslo, Lincoln, Berlin, New York, gezeigt, besonders auch in Gruppenausstellungen mit anderen Schülern Sterligovs oder in Überblicksausstellungen zur nonkonformen Kunst der Sowjetunion bzw. Russlands, deren Wurzeln in der russischen Avantgarde liegen.