16. Februar 2022
Schreibende im Bild – Die Schriftstellerporträts von Roger Melis
Es sind die Bildnisse des Ost-Berliner Fotografen Roger Melis (1940–2009), die im kollektiven Gedächtnis verhaftet sind, wenn man an die Vertreterinnen und Vertreter der schreibenden Zunft und der bildenden Kunst in der DDR denkt. Allein in der Fotografischen Sammlung des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale) befinden sich, dank zweier umfänglicher Dauerleihgaben, 41 verschiedene Gesichter von Kulturschaffenden aus drei Jahrzehnten.
Es begann mit einer Buchidee des Dramaturgen Klaus Völker (*1938). Nach dem Mauerbau plante er eine Publikation über die Autoren in Ost- und in West-Berlin. Die Schriftsteller mit denen Völker sich traf, sollte der befreundete Roger Melis porträtieren. So entstanden in den 1960er Jahren die ersten Bildnisse und legten die Basis für eine umfangreiche Sammlung an Porträts, die sich über die Jahre erweitern sollte. Bereits die Aufnahmen von Johannes Bobrowski (1917–1965), Anna Seghers (1900–1983) und einige Zeit später auch Stephan Hermlin (1915–1997) warten mit dem Spezifischen in Melis‘ Porträts auf. Melis beschrieb es 2007 so:
„Der Augenblick, den ich immer wieder aufzuspüren suchte, war vielmehr der, in dem das Besondere, das Außergewöhnliche, das Zufällige von den Menschen und Dingen abfällt und sie ihr Wesen, ihre Eigentümlichkeit preisgeben.“Roger Melis, 2007 |
Biografie Roger Melis
| 1940 |
| in Berlin geboren | |
| 1957–1960 |
| Lehre als Fotograf | |
| 1962–1968 |
| als wissenschaftlicher Fotograf an der Berliner Charité tätig | |
| ab 1966 |
| erste Reportagen für „Merian“ | |
| ab 1968 |
| erste Modefotografien für „Sibylle“ und Mitglied im Verband Bildender Künstler (VBK) | |
| 1969 |
| Mitbegründer der Fotogruppe „Direkt“ | |
| 1970 |
| Heirat mit Dorothea Bertram | |
| 1978–1990 |
| Lehrauftrag an der Kunsthochschule Weißensee | |
| ab 1981 |
| Vorsitzender der Zentralen Arbeitsgruppe Fotografie im VBK | |
| ab 1982 |
| Auftragssperre für die DDR-Presse wegen eines gemeinsamen Beitrags mit Erich Loest für die Zeitschrift „Geo“ | |
| 1993–2006 |
| Lehrer für Fotografie beim Berliner Lette-Verein | |
| 2009 |
| in Berlin gestorben | |
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| Arbeitete auch für die „Neue Berliner Illustrierte“, die „Wochenpost“, „Die Zeit“, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und die „Süddeutsche Zeitung“ |
Für diese offenbarte Nähe besuchte Melis die Kulturschaffenden meist in ihrem Zuhause – an dem Ort, an dem sie lebten und arbeiteten, wo sie sich sicher fühlten und am ehesten ihr Wesen zeigten. Auch der Umraum verrät viel über die Protagonisten: Der belesene Bobrowski vor der Bücherwand oder Stephan Hermlin, dem die Kultur in die Gene eingeschrieben zu sein scheint, wenn er vor dem Ölbild seiner Mutter Lola Leder (1892–1977), gemalt von keinem Geringeren als Max Liebermann (1847–1935), posiert. Für solch attributivistische Darstellungen positionierte Melis sich und seine Kamera in der Halbnähe.
Melis selbst erinnerte sich 2008 an die schwierige Aufnahme mit Anna Seghers in ihrer Wohnung in Berlin-Adlershof. Die Autorin von „Das Siebte Kreuz“ oder „Transit“ bot dem Fotografen ausschließlich die bereits bekannten Posen: An der Schreibmaschine sitzend oder vor dem Bücherregal in einem Buch blätternd. Aber Melis wollte mehr. Schließlich war es die Erschöpfung, die Anna Seghers auf den Stuhl sinken ließ. Klaus Völker, der noch immer mit Seghers‘ Absage an das oben erwähnte Buchprojekt haderte, musste, wie er 1992 im Vorwort zu der Publikation „Roger Melis. Berlin-Berlin“ schrieb, auch das fotografische Porträt verdauen, so treffend schien es ihm:
Allein durfte auch Roger dann die große Schriftstellerin besuchen, gegen deren Starre, die ihr Gesicht zeigte, ich mich damals im Gespräch und in Briefen voller Ungeduld heiß redete, die leise Trauer und Erschöpfung übersehend, die vom Wissen um das Scheitern der Überzeugung herrührte, man könne sein Ziel erreichen, wenn man nur unumwunden darauf bestünde.
Was sie mir damals nicht gesagt hat, ist festgeschrieben in den Bildern von Roger Melis.
“
Dem Porträt von dem Lyriker und Chefredakteur der literarischen Zeitschrift „Sinn & Form“ Peter Huchel (1903–1981) kommt eine Sonderstellung zu. Bei ihm wuchs Roger Melis seit seinem siebten Lebensjahr auf. Er war ihm also mehr als vertraut. Von den anderen Schreibenden besuchte er manche einmalig, andere porträtierte er, etwa für den Aufbau-Verlag oder den Verlag Volk & Welt, des Öfteren, wieder andere wurden Freunde – Huchel aber war Familie und saß schon zu Beginn Modell für seinen Stiefsohn. Auffällig an der Fotografie ist der Ort. Melis zeigt ihn nicht inmitten seiner Bücher, sondern in der Natur am kleinen Holzplatz hinter dem Haus im Wilhelmshorster Hubertusweg, südlich von Potsdam. Zum Zeitpunkt der Aufnahme erduldete Huchel bereits sieben Jahre Isolation und Überwachung durch das DDR-Ministerium für Staatssicherheit. Er hatte 1962 seine Arbeit bei „Sinn & Form“ niederlegen müssen. Daher erscheint es nur logisch, Huchel nicht am Schreibtisch oder mit anderen Attributen zu zeigen.
Gelegentlich ergab sich für Roger Melis die Möglichkeit, auch westdeutsche Autoren zu fotografieren, wie etwa Rolf Hochhuth im Club der Kulturschaffenden in Berlin-Mitte 1979. Der bewusst dunkel gehaltene Hintergrund verrät, dass es sich nicht um die Privaträume des Schriftstellers handelt – das war dem Ost-Berliner Melis bei westdeutschen Kulturschaffenden, abgesehen von einem einwöchigen Zugang nach West-Berlin, versagt geblieben. Die Zeit, einander besser kennenzulernen, blieb somit unterbunden und widersprach Melis‘ Arbeitsweise. Hochhuths Geste mit der Hand vor dem Mund ermöglicht daher auch viel Interpretationsspielraum: Der Denkende – der Reservierte – der nicht reden Wollende … Ganz anders die offene Haltung Heiner Müllers, der über die Jahre ein Freund Melis‘ wurde und den der Fotograf mehrfach porträtierte.
Die Buchidee Klaus Völkers wurde leider nie realisiert, da sich kein Verlag für die Veröffentlichung fand. Allerdings verkaufte Völker die Schriftstellerporträts von Roger Melis in den Westen und sie erschienen in „Magnum“, dem Feuilleton der „Zeit“ und in der Literaturbeilage der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. So galt Melis im Westen schnell als der Literaturfotograf des Ostens. Nach der Wende wurde er zum Chronisten eines nicht mehr existierenden Landes. Sein 2007 erschienenes Buch „In einem stillen Land“ – sein Porträt der Ostdeutschen – etwa war bei der Leserschaft und den Kritikern derart erfolgreich, dass Peter von Becker im „Tagesspiegel“ den Fotografien von Melis attestierte, es gäbe kaum schönere, kaum wahrere. Wie in den Künstlerporträts wird hier deutlich: Roger Melis‘ Fotografien haben Tiefe, wollen den Menschen zeigen, wie er ist, ohne Maske.