15. Juli 2020

Alltagsmomente und Familienporträts 

zum 20. Todestag von Christian Borchert

Vor 20 Jahren verunglückte der Fotograf Christian Borchert (1942−2000) tödlich in Berlin. Bekannt als Chronist des DDR-Alltags, für seine Stadtdokumentationen vornehmlich von Berlin und seiner Geburtsstadt Dresden, ist sein Werk im Kern eine Auseinandersetzung mit den Menschen in ihrer Umgebung. Es ist das leise Alltägliche, das Borchert für nachfolgende Generationen mit einem feinen Gespür für das Wesentliche in poetisch-künstlerischen Aufnahmen dokumentierte.

 

Ich will eine wahre Darstellung von Erscheinungen, und dabei geht es in erster Linie um die Erscheinung und nicht um deren Korrektur. Aber in zweiter Linie: Dass der Betrachter darüber nachdenkt, was der Chronist ihm zeigt, das will ich mir schon wünschen.

Christian Borchert

Bis Mitte der 1970er Jahre arbeitete Borchert als Bildjournalist bei der „Neuen Berliner Illustrierten“ (NBI). Nach Abschluss seines Fernstudiums an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) war er seit 1974 als freischaffender Fotograf tätig. In der Sammlung Fotografie des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale) geben über 100 Abzüge des Fotografen einen vielfältigen Einblick in sein Werk.

 

So beispielsweise diese Bilder aus seinem Langzeitprojekt der „Familienporträts“. Um das Jahr 1983 fotografierte Christian Borchert mehr als 80 Familien in der DDR in ihren Wohnräumen. Das Projekt wurde gefördert von der Gesellschaft für Fotografie im Kulturbund der DDR, deren Bildersammlung ebenfalls im Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) beheimatet ist. Entstanden sind Aufnahmen von sozialer Dichte, die formal streng dem Konzept des Fotografen folgen: Die Gruppenporträts werden stets mit gleicher Brennweite und Entfernung im Querformat aufgenommen. Was sich jeweils ändert, sind die von den Familien individuell gewählten Positionen, Kleidung, Haltung und Konstellationen zueinander. Distanziert beobachtend übersetzen die Fotografien auf diese Weise Beziehungsstrukturen ins Visuelle, treten im Nebeneinander der Motive soziale Unterschiede und Ähnlichkeiten hervor.

„Oszillierend zwischen zeithistorischem Dokument, sozialhistorischer Bildquelle und eigenständiger künstlerischer Aussage geben die Bilder intime Einblicke in die Privatsphäre ostdeutscher Familien aus unterschiedlichen sozialen Milieus vor und nach der politischen Wende. Zudem deuten sie an, welche soziale Vielfalt und Ungleichheit es in der DDR gab.“

Agneta Jilek, H-Soz-u-Kult, 21. Juli 2014


Vater, Mutter, drei Kinder, vor geblümter Tapete, im nächsten Bild Diplom-Geograph und Diplom-Lehrerin vor gefüllten Bücherregalen. Die intensive Betrachtung wird belohnt: Ist das etwa die gleiche Schrankwand, vor der ernst, ja fast feierlich-steif die Familie des Ingenieurs für Elektrotechnik und die locker stehende Familie des Maurers posieren? Wohnungsausstattung, Mode und Frisuren rufen die Vergangenheit auf und lösen Erinnerungen aus. Borchert macht die Familie sichtbar als Nukleus von persönlicher Geschichte, in der sich aber immer auch zeithistorische Momente spiegeln − eine Vision, die gerade zu Zeiten von Corona und den damit einhergehenden Herausforderungen für Familien hochaktuell ist.


Künstlerbildnisse, Alltagsmomente aus Berlin und Osteuropa sowie Aufnahmen von Dresden runden das Profil der Sammlung ab. Im Museum sind Borcherts Bilder aktuell im Depot und werden für die Digitalisierung vorbereitet. Originale gibt es noch bis zum 20.9.2020 im Sprengel Museum Hannover zu sehen. Dort wird mit „Christian Borchert. Tektonik der Erinnerung“ an die große, über mehrere Ausstellungsorte verteilte Retrospektive zu Borcherts Schaffen angeknüpft, die 2019 im Dresdner Kupferstichkabinett sowie im Albertinum zu sehen war.

 

Der Nachlass des Fotografen befindet sich in der SLUB Dresden (Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek) . Im „Archiv der Fotografen“ der Deutschen Fotothek bieten über 12.000 digitalisierte Arbeitsabzüge die Möglichkeit, sich intensiv mit seinem Werk auseinanderzusetzen. Immer wieder neu hat Borchert seine Bilder nach Themen geordnet, Bilder verworfen und wieder hervorgeholt, abgelegt in Kisten, beschriftet mit „Blick aus meinem Fenster“, „Berlin“ oder auch „Knitterfotos“. Die intensive Auseinandersetzung zeugt von einer künstlerischen Praxis des Sammelns und Ordnens, ja einer konstanten Revision des eigenen Archivs, die sich in seinen Bildmotiven spiegelt.

Nachlass von Christian Borchert in der Deutschen Fotothek

 

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Publikation

Christian Borchert. Familienporträts

Fotografien 1973–1993, hrsg. von Mathias Bertram und Jens Bove, Leipzig 2014.

 

„Diese Bilder sind Futter für die Fantasie“

Interview mit dem Verleger Mark Lehmstedt zu Borcherts Familienporträts, Die Zeit, 21. April 2017

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Wie alles anders bleibt. Über die Familienporträts von Christian Borchert

Jana Hensel, Die Zeit,
21. April 2017

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Bertram Kaschek über den Fotografen Christian Borchert

Interview zur großen Retrospektive im Kupferstichkabinett in Dresden, SKD Blog, 21. November 2019

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Christian Borchert. Tektonik der Erinnerung

Ausstellung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett
26.10.2019–8.03.2020

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„… eine eigenartige Entrücktheit“ Christian Borcherts Blick auf Georg Kolbe

Ausstellung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Albertinum
26.10.2019–26.01.2020

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Christian Borchert (1942–2000) in Wuischke/Wuježk

Ausstellung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett
7.07.2019–26.01.2020

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Retrospektive: Wie Dresden den Fotografen Christian Borchert neu entdeckt

Birgit Fritz, MDR KULTUR, 26. Oktober 2019

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