11. Oktober 2024
Auf leisen Sohlen und eigenen Wegen
In Erinnerung an den Kunsthistoriker Andreas Hüneke, der am 1. Oktober 2024 mit 80 Jahren verstarb.
Unsere erste Begegnung mit Andreas Hüneke führt zurück in das Sommersemester 2003 am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin. Kurz zuvor war die Forschungsstelle „Entartete Kunst“ gegründet worden, die allen voran mit der Aufgabe betraut war, die 1937 in Deutschlands öffentlichen Sammlungen als „entartet“ beschlagnahmten Kunstwerke in einer Datenbank zugänglich zu machen. Dass dies überhaupt möglich war, verdankte sich einem regelrechten Sensationsfund im Victoria and Albert Museum in London. Hier hatte nur wenige Jahre zuvor Andreas Hüneke die durch die Ferdinand-Möller-Stiftung und die Kulturstiftung der Länder ermöglichte und nicht nur für ihn völlig unverhoffte Gelegenheit erhalten, das verschollen geglaubte Beschlagnahmeinventar der nationalsozialistischen Aktion „Entartete Kunst“ in seiner Gesamtheit persönlich in Augenschein zu nehmen.
Dies war zweifelsohne ein wissenschaftlicher Paukenschlag gewesen, von dem jedoch in unserem Berliner Uni-Sommer 2003 nur wenig zu hören war. Dafür betrat Andreas Hüneke auf viel zu leisen Sandalensohlen den Seminarraum, der allwöchentlich bis auf den allerletzten Platz besetzt war. Die so verstörenden wie eindrucksvollen Kapitel nationalsozialistischer Kunstpolitik, die er hier zunächst an der Seite von Christoph Zuschlag ein ums andere Mal aufschlug, zogen uns genauso in ihren Bann wie die vielen Schicksale von Künstlerinnen, Künstlern und Kunstwerken im „Dritten Reich“. Dass uns mit Andreas Hüneke noch dazu der schon damals international führende Experte für „Entartete Kunst“ gegenüberstand, wurde den meisten von uns angehenden Kunsthistorikerinnen und Kunsthistorikern hingegen wohl erst nach und nach bewusst. Zu sehr pflegte er neben der unverzichtbaren Zigarette zwischendurch auch die leisen, manchmal geradezu stillen Töne.
In seinen Seminaren legte Andreas Hüneke nicht selten eine längere Pause ein, ehe er auf die Fragen von Studierenden antwortete. Während er so eine kleine Weile innehielt, suchte er mit Bedacht nach Worten. Hatte er sie schließlich gefunden, teilte er sein Wissen großzügig und mit einer Achtsamkeit, die unseren Blick auf die Kunstgeschichte prägen sollte. Für Andreas Hüneke gab es kein Schwarz-Weiß. Er lenkte seine und sehr bald auch unsere Aufmerksamkeit vor allem auf die vielen feinen Grautöne, gerade, wenn es darum ging, historische Zusammenhänge und Existenzen in Diktaturen in all ihren Facetten zu erfassen. Ein Zufall war dies nicht, denn auch Andreas Hüneke wusste, was es bedeutete, in einer Diktatur zu leben, jenseits der deutsch-deutschen Grenze, in der DDR.
Im sächsischen Wurzen als Sohn eines Pfarrers 1944 geboren, wurde er bereits in seiner Jugend vom Schulunterricht ausgeschlossen, besuchte ein kirchliches Seminar und holte, im Anschluss an eine Lehre als Plakatmaler, das Abitur an einer Abendschule nach. Weil er den Wehrdienst verweigerte, durfte er nur Theologie studieren, begeisterte sich aber zu jener Zeit, von 1965 bis 1970, auch für die kunsthistorischen Vorlesungen der Martin-Luther-Universität in Halle (Saale). Seinen weiteren Lebensweg bestimmte die Leidenschaft für die Kunst und führte ihn zunächst 1971 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an das Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale). Hier leitete er die Sammlung Plastik, für die ihm bedeutende Erwerbungen gelangen, genannt seien Bronzen von Wieland Förster, Friedrich B. Henkel, Günter Huniat und Karl Müller. Darüber hinaus beschäftigte er sich intensiv mit der Geschichte des Museums und seiner 1937 von den Nazis geraubten Sammlung moderner Kunst. Dieses Thema, das aufs Engste verbunden ist mit den avantgardistischen Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts, vor allem dem Expressionismus, mit Institutionen- und Personengeschichte – etwa so wichtiger Museumsdirektoren wie Max Sauerlandt und Alois J. Schardt, aber auch dem Leben und Schaffen der Künstler selbst, seien es Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Emil Nolde, Lyonel Feininger, Paul Klee, Wassiliy Kandinsky oder in besonderer Weise Franz Marc –, all dies packte ihn und ließ ihn nicht mehr los.
In der DDR wurden seine Forschungen wie auch sein Einsatz für zeitgenössische, unangepasste Kunst längst beargwöhnt. So geriet er ins Visier der Staatssicherheit, die auch seine Freundschaften zu Künstlern wie Fotis Zaprasis, Olaf Wegewitz, Frieder Heinze, Hans-Hendrik Grimmling, Günther Huniat, Egon Wrobel und vielen anderen misstrauisch beobachtete. Als er nach der Ausweisung des Liedermachers Wolf Biermann 1976 im Bekanntenkreis eine regimekritische Grafik in Umlauf brachte, wurde er endgültig von der Staatssicherheit kontrolliert, die eine Operative Personen-Kontrolle (OPK) einleitete und plante, ihn aus dem Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) „herauszulösen“. Diesem Schritt kam er zuvor, als er nach dem Verbot der von ihm kuratierten Ausstellung „Junge Leipziger Künstler“ im Frühjahr 1977 das Angestelltenverhältnis selbst kündigte.
Von nun an war Andreas Hüneke freiberuflich als Kunsthistoriker, Kritiker und Ausstellungskurator tätig. Auf diese Weise wahrte er seine Unabhängigkeit und blieb auch dem Museum in Halle (Saale) weiterhin gewogen. Seinen reichen Wissensschatz zur Geschichte und zum Verlust der Moderne-Sammlung stellte er 1985 für die Ausstellung und den gleichlautenden Katalog „Im Kampf um die moderne Kunst. Das Schicksal einer Sammlung in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts“ zur Verfügung. Später profitierte das hallesche Museum von seiner Expertise zu einzelnen Künstlern, Sammlern, Kunsthistorikern und weiteren Akteuren. Nach der Wende 1989, als der internationale und westdeutsche Kunstmarkt für das ostdeutsche Museum erreichbar wurde, gelangten mit seiner Hilfe sogar zahlreiche Werke der einst als „entartet“ beschlagnahmten Arbeiten nach Halle (Saale) zurück: Gemälde und Aquarelle von Feininger, Heckel, Kandinsky, Nolde. Die Lücken, die die Beschlagnahmeaktion in die Sammlung gerissen hatte, stets vor Augen, vermittelte er schließlich auch die Sammlung Dr. Erhard Kracht, die hier seit 2004 mit erlesenen Werken von Franz Marc als Dauerleihgabe beheimatet ist.
Seine herausragenden Verdienste um die Sammlung waren für das Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) Grund genug, Andreas Hüneke zu seinem 80. Geburtstag im März 2024 das Festsymposium „Freiheit kommt nie verfrüht“ zu widmen. Eine Vielzahl hochkarätiger Vorträge spiegelte das gesamte Spektrum seiner wissenschaftlichen Expertise wider und würdigte zugleich seine wegbereitenden Forschungen zur Klassischen Moderne, zur deutschen Museumsgeschichte sowie zur Aktion „Entartete Kunst“. Eine große, für Andreas Hüneke unerwartete Freude bescherte die anschließende Lesung samt Konzerteinlage von Wolf Biermann, der für ihn ein eigenes Programm vorbereitet hatte. Das Symposium fand nicht nur in Andreas Hüneke einen langen und dankbaren Nachhall. Es war getragen von großer Wertschätzung und Freundschaft – allen voran seitens der Organisatorinnen und Verfasserinnen dieser Zeilen, die Andreas Hüneke auch nach ihrem Studium zutiefst verbunden blieben. Bis zuletzt durften sie ihn als einen außergewöhnlichen Wissenschaftler und Mentor erleben, der sich seinen frohsinnigen Feinsinn genauso bewahrte wie seinen freiheitssinnigen Eigensinn, ganz wie damals im Seminarraum, den er zwar immer leise, aber nie ohne seine Sandalen betrat.
Tagungsprogramm „Freiheit kommt nie verfrüht“ (PDF-Datei, 969 KB)