11. Februar 2021
Karnevalistische Impressionen
#diesmalnicht von Weiberfastnacht bis Aschermittwoch
Karneval, Fastnacht, Fasching: ein wilder Rausch, bunte Festzüge, Menschenmassen, Feiernde auf den Straßen, volle Bahnen und überall fliegende Kamelle, verkleidete Kinder, Alaaf und Helau. Dieses Jahr sieht es anders aus – ob in Köln, Düsseldorf, Venedig oder Halle (ja auch an der Saale frönt man jährlich dem karnevalistischen Treiben). Für so manchen, der normalerweise zur närrischen Zeit aus den Karnevalshochburgen flieht, mag innere Ruhe einkehren; für andere stellt der pandemiebedingte Ausfall der fünften Jahreszeit einen herben Verlust dar.
Die vom Kölner Fotografen Ibo Minssen (*1936) aufgenommenen Schwarzweißbilder des Kölner Straßenkarnevals scheinen in diesem Jahr seltsam passend, um diese neckischen Festtage in memoriam zu begehen: Wie durch eine historisierende, abstrahierende Brille wirken die Aufnahmen, die doch erst vor wenigen Jahren entstanden sind. Damals – als man Masken noch als Form der Verkleidung trug, als der Kontakt zu anderen Personen noch im Zentimeter- und nicht im Meter-Radius gemessen werden konnte.
Ibo Minssen, fotografischer Autodidakt und beruflich als Richter tätig, fotografiert seit den 1950er Jahren meist in Schwarzweiß. Äste, Bäume, Situationen des Verfalls und Puppen sind seine Themen. Hinzu kommen zwei offene Serien, die sich in nahem Kontakt dem Menschen widmen: Fotografien vom jährlichen Kölner Christopher Street Day und vom Kölner Straßenkarneval. Keine Prunkbilder der Umzüge sind dies, keine in Szene gesetzten Kostümbilder. Vielmehr streift der Fotograf mit seiner Kamera umher, wird Teil des oft chaotischen Geschehens und fängt aussagekräftige wie beiläufige Momente der Feierlichkeiten ein.
Auf diese Weise gelingt Minssen ein realistisches Bild des Kölner Karnevals zwischen Bratwurststand und Venedigmaske. Auch der unverzichtbare Kiosk macht seinen Auftritt, quer auf dem Boden liegende Fahrräder erzählen eine eigene Geschichte von vollen Bahnen, alternativen Transportmitteln, verlorenen Besitztümern und gefundenen Objekten. Dicke Wollpullis unter den Kostümen zeugen von der jährlichen Herausforderung, sich närrisch und zugleich winter- und wetterfest zu kleiden für das stundenlange Schlangestehen, bis man Einlass findet in einen der zahlreichen Karnevalstempel, in denen sich die dichtgedrängten Menschenmassen nur in spontanen Polonaisen für wenige Minuten kurzfristig organisieren. Ein Fest für Aerosole und die klassische Karnevalsgrippe. Die von Minssen fotografierte Realität des Straßenkarnevals stellt somit die Antithese zu jeder effektiven Pandemie-Eindämmung dar.
#diesmalnicht
Wird über die Ursprünge des Karnevals genauso gestritten wie über den richtigen Narrenruf, so ist doch für viele klar: Ob inspiriert durch eine keltische Austreibung des Winters, durch römische Saturnalien oder griechische Festlichkeiten für Dionysus – Karneval bedeutet heute Exzess und Frohsinn vor den ruhigen Fastentagen. Die vierzigtägige Fastenzeit beginnt traditionell am Aschermittwoch und dient der Vorbereitung auf das christliche Osterfest. Dieses Jahr scheint es, als sei pandemiebedingt eine lange zwischenmenschliche Fastenzeit vorgezogen, das erlösende Fest wird immer weiter verschoben. Es ist jedoch nicht das erste Mal, dass die närrische Zeit ausfällt. Über die Jahrhunderte wurde „die Mummerei“ schon des Öfteren durch die städtische Verwaltung verboten – zu groß schien das Chaos, das das ungezügelte Aufeinandertreffen so vieler Menschen verursachte.
Diese moralische Ambivalenz, das Rauschhafte, überschäumend Fröhliche des Karnevals, das nicht selten ins moralisch Bedenkliche kippt, illustrieren zwei Blätter aus der grafischen Sammlung des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale) mit karnevalistischen Impressionen vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Leicht tänzelnd erscheint die mittlere Figur in Albert Blochs (1882–1961) Kaltnadelradierung von 1913. Doch dem zweiten Blick gelingt es nur bedingt, das Bild zu sortieren: Geäst, Sträucher und Schraffierungen strukturieren die Bildfläche in einem wilden Reigen. Sieben weitere Gestalten mit teils nur schemenhaften Umrisslinien insinuieren verschiedenste Intentionen und Überraschungsmomente des karnevalistischen Treibens. Was plant der Mann vorne links? Kennt die weibliche Karnevalistin hinten rechts ihren Begleiter?
Das Blatt von Karl Müller (1988 –1972) stellt die Wahrnehmung des Menschen in den Mittelpunkt. Trank, Tanz und Gesellschaft, so ließe sich das Motiv deuten, fließen in rauschhafter Symbiose zusammen, welche das innere Erleben nachhaltig prägt und auch hier durchaus schattenhafte Effekte hervorruft. Zeigt sich in der dunklen Figur im Hintergrund die Auseinandersetzung mit der inneren Moral? Die moralische Frage stellt sich wohl auch dieses Jahr, wenn auch sicherlich anders als sonst. Bereits der Sessionsauftakt am 11.11.2020 stand unter dem Motto #diesmalnicht – ein Aufruf an alle Jecken, sich an die Corona-Regeln zu halten und auf Karnevalsfeiern zu verzichten.
Eine Illustration karnevalistischen Treibens, die nicht die Schattenseiten, sondern munteren Frohsinn zeigt, ist ab dem 9. Mai 2021 im Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) in der Ausstellung „La Bohème – Henri de Toulouse-Lautrec und die Meister vom Montmartre“ zu sehen: Auf dem fantastischen Plakat des Théâtre National de l’Opera für einen maskierten Ball erscheint die schicke Kleidung kunstvoll drapiert und prachtvolle Blumen und Federn zeugen davon, dass Karneval im Kontext der französischen Bohème auch Eleganz bedeuten kann. Die Maske gewinnt hier ihre uralte Funktion als Verkleidung, als Möglichkeit des identitären Abenteuers und kurzfristigen Rollenwechsels zurück und bietet statt Einschränkung Freiheit und Lebensfreude an.
Jules Chérets (1836–1932) Lithografie stammt aus dem Musée d'Ixelles, Brüssel und wird zusammen mit dem umfassenden lithografischen Werk Henri de Toulouse-Lautrecs (1864–1901) und wichtiger Zeitgenossen der Kunst der Moderne bis 8. August im Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) zu sehen sein. Wir freuen uns auf einen, nach den Monaten der kulturellen Abstinenz fürwahr angemessenen, Einblick in die Pracht und Dekadenz der Belle Époque.
Und da es im Karneval ja im Grunde vor allem um eben diesen Frohsinn geht, schließen wir den Blogbeitrag heute mit drei Weisheiten aus dem Kölnischen Grundgesetz, die die aktuelle Lage hoffentlich erträglicher machen: Et es wie et es! Wat wellste maache! Und vielleicht am Wichtigsten: Et hätt noch immer jot jejange!
Und dann, nächstes Jahr, dürfen sich Karnevalisten und Nicht-Karnevalisten gleichermaßen hoffentlich wieder auf kreative Kostümierungen freuen, unter denen sicher das ein oder andere Virus-Outfit und Christian-Drosten-Kostüm seinen Auftritt haben wird. Für unsere kleinsten Besucher hat sich unsere Kunstvermittlung dieses Jahr übrigens unter dem Motto „Karneval der Tiere“ etwas ganz Besonderes ausgedacht – Näheres dazu hier:
In diesem Sinne: Alaaf und Hellau!
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