10. April 2020
Oh Haupt voll Blut und Wunden ...
Das Kruzifix aus der Laurentius-Kirche in Halle (Saale)
#closedbutopen
Kruzifixus heißt in der wörtlichen Übersetzung aus dem Lateinischen „der an das Kreuz Geschlagene“ und wurde zum Begriff für die Darstellung des gekreuzigten Christus. Die Darstellung, die das zentrale Bild des Christentums ist, durchlief in den vergangenen 2 000 Jahren unterschiedliche Varianten. So war in der jungen christlichen Kirche der ersten Jahrhunderte Christus nicht der am Kreuz Gemarterte – der Kreuzestod war zu seiner Zeit die schimpflichste und häufigste Art der Hinrichtung –, sondern ein jugendlicher, schöner, kraftvoller Hirte, der ein Lamm trug – ein Heros, ähnlich den Helden der antiken Mythologie.
Wie wurde der gekreuzigte Christus im Laufe der Jahrhunderte dargestellt?
Mit der Auffindung des Kreuzes im 4. Jahrhundert durch Helena, die Mutter des römischen Kaisers Konstantin, der das Christentum zur Staatsreligion erklärte, rückte die Darstellung des an das Kreuz genagelten Christus in der weströmischen Kirche mehr und mehr ins Zentrum der Verehrung und Anbetung, während in der Ostkirche Christus häufig als Weltenherrscher (Pantokrator) und als Sieger (Victor) wie ein Feldherr bekleidet und mit einem schmalen, locker geschulterten Doppelkreuz, in Erscheinung trat.
Das erste erhaltene Monumentalkreuz der weströmischen Kirche in Enghausen mit 2,32 m Höhe und 1,78 m Breite (der Körper Christi ist 1,88 m hoch) entstand in spätkarolingischer Zeit zwischen 890 und 900. Es zeigt weniger einen sterbenden Christus als einen lebendigen jugendlichen Mann, der mit offenen Augen und ohne Dornenkrone vor dem Kreuz eher steht, als dass er daran hängt, obwohl Hände und Füße angenagelt sind. Dieser Typus – ein junger Mann mit langem dunklem Haar, dunklem Kinnbart und mit einem geknoteten Schurz um die Hüften – dominiert die Kruzifixgestaltungen durch die Jahrhunderte, geprägt vom Stil der jeweiligen Zeit.
In der Romanik war die Darstellung als Typus des Christus triumphans weit verbreitet. Zwar ist dieser Christus mit je einem Nagel durch jede Hand und jeden Fuß am Kreuz angeheftet, doch steht er als Überwinder von Leiden und Tod in einem tunikaartigen Gewand und mit einer Königskrone geziert vor dem Kreuz, die Füße auf das Antependium, einen kleinen Querbalken, gestützt.
Erst in der Gotik werden die Züge des Leidens und Sterbens des Gekreuzigten immer deutlicher betont, wird sein gequälter Körper immer realistischer dargestellt und sein Leidensweg damit immer nachvollziehbarer für den Gläubigen. Der sollte sich in die Betrachtung der Darstellung versenken und so die Passion, den Leidensweg Christi, selbst erfahren.
Das Kreuz in der Karfreitagsprozession
Zur Compassio, dem nachempfindenden Mitleiden, trägt auch die Oster-Liturgie, die rituellen Handlungen im Gottesdienst, vor allem in der katholischen Kirche bei. Sie beginnt am Palmsonntag mit dem Einzug Jesu und seiner Jünger in Jerusalem und endet am frühen Morgen des folgenden Sonntags mit der Verkündigung der Auferstehung Christi. Hierbei spielt das Kreuz eine zentrale Rolle. Am Karfreitag, dem Tag, an dem Jesus nach den Evangelien festgenommen, zum Tod am Kreuz verurteilt wurde und auf der Hinrichtungsstätte Golgatha einen langsamen, qualvollen Tod erlitt, wird das Kreuz durch verschiedene Stationen im Kirchenraum oder auch durch die Stadt getragen, die dann zugleich Sinnbild der Stadt Jerusalem ist. Die Gläubigen versenken sich mit der Liturgie in das Geschehen, das durch die Wiederholung jenseits seines historischen Ortes und der historischen Zeit auch ihnen die Auferstehung nach dem Sterben ankündigt. Um diese Handlungen durchführen zu können, gab es in den Kirchen viele „Requisiten“, zu denen auch die monumentalen Kreuze gehören, wie das Kruzifix in der Sammlung des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale).
Wenn die Kruzifixe in der Osterliturgie entlang der Stationen des Leidensweges Christi, des sogenannten Kreuzweges, getragen werden, ist der tiefe Eindruck vorstellbar, den dies bewirkt. In Halle gibt es noch drei weitere lebensgroße Echthaar-Kruzifixe: in der Kirche Unser Lieben Frauen am Markt und den Kirchen St. Moritz und St. Briccius. Eine alte Hallenserin erinnerte sich einst, dass sie als Kind in der Marktkirche erlebte, wie das Kruzifix durch den Raum getragen wurde und welche Furcht ihr dies einflößte. Über den Rest des Jahres hatten die großen Kreuze ihren festen Platz im Kirchenraum, meist im Bereich des Chores.
Das spätmittelalterliche Kruzifix aus der halleschen Laurentius-Kirche im Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale)
Das Kruzifix ist Teil der Sammlungspräsentation des Museums und im sogenannten Gotischen Gewölbe im 1. Untergeschoss des Westflügels ausgestellt. Es ist nicht ganz lebensgroß und datiert in das ausgehende 15. Jahrhundert. Sein ursprüngliches Kreuz ist nicht erhalten und wurde durch ein schlichtes neues ersetzt. Obwohl der Corpus durch den Verlust seiner farbigen Fassung viel von seinem ursprünglichen Eindruck eingebüßt hat, ist er noch immer eindrucksvoll und entspricht mit seiner realitätsnahen Gestaltung des Sterbenden den Kruzifixen der Hochgotik.
Weitere Informationen zur Sammlungspräsentation „Sakrale Kunst von Mittelalter bis Barock“
Zu sehen ist ein kräftiger, noch junger Mann, nackt bis auf das schmale Tuch, das um die Hüften geschlungen ist. Tatsächlich hängt er am Kreuz, angeschlagen mit drei Nägeln, denn in der Gotik werden die übereinander gelegten Füße von nur einem Nagel durchbohrt. An dem sackenden Brustkorb treten die Rippen hervor, an den gestreckten Armen wird die Muskulatur gezerrt, der Kopf mit den schon fast erloschenen Augen, dem leicht geöffneten Mund, in dem die Zähne und die Zunge sichtbar werden, ist seitlich auf die Brust gesunken. Reste der Fassung an den Armen und Beinen lassen erkennen, dass Adern und Sehnen plastisch ausgebildet waren und angespannt hervortraten.
Die seltsame Form des Kopfes mit Kinnbart, an dem jedoch die Ohren fehlen, lässt darauf schließen, dass die Figur ursprünglich mit langem Haar versehen war. Man pflegte dunkles Rosshaar entweder in einzelnen Strähnen anzukleben oder setzte eine Art Perücke auf den Kopf, sodass das Haar zu beiden Seiten niederhing. Darauf saß dann die Dornenkrone. Das Kruzifix gehört zu den vor allem in Süddeutschland häufiger vorkommenden Echthaar-Kruzifixen der Hoch- und Spätgotik. Das Bild des Gekreuzigten gibt sehr lebensnah den Sterbenden kurz vor seinem Tod wieder, dessen letzter Lebensfunken nach den Stunden des langsam eintretenden Todes, den eine Kreuzigung bewirkte, bald erlöschen wird. Jeder Gläubige kannte und kennt dieses Passionsgeschehen. An diesem Kruzifix ist es als eine auch menschlich zutiefst ergreifende Qual abzulesen.
Es ist bemerkenswert, dass sich in Halle (Saale) vier dieser großen Kruzifixe erhalten haben. Denkbar ist, dass sie alle aus derselben in der Region ansässigen Werkstatt stammen. Das Kruzifix im Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) stammt aus der Laurentius-Kirche. Sie gehörte zum Stift der Augustinerchorherren im Kloster Neuwerk vor den Toren der mittelalterlichen Stadt und wurde 1140 geweiht. Das Stift wurde im Zuge der Reformation 1531 aufgelöst.
Bereits vor dem Ersten Weltkrieg wurde das Kruzifix an das Museum abgegeben, möglicherweise weil es Schäden aufwies; vielleicht auch weil seine religiöse Funktion dem protestantischen Glaubensverständnis nicht mehr entsprach. Da das Haar mit der Dornenkrone fehlte, wurde passend zum Ausdruck des Gekreuzigten eine neue Dornenkrone hergestellt, die die durch den Verlust der Haare befremdliche Kopfform angemessen kaschiert.
Die Figur des Gekreuzigten fand durch den ersten amtlich bestellten Direktor des Museums, Max Sauerlandt (1880–1934, Direktor 1908–1919), einen Verfechter der Moderne, vor allem des Expressionismus, und umsichtigen Kunsthistoriker, neue Anerkennung. So erwarb er 1917 für das Museum eine Reihe mittelalterlicher Schnitzplastiken und Altarschreine aus der Region – Altarretabeln und Einzelfiguren, die von den protestantischen Kirchgemeinden abgegeben wurden. Die meisten der heute im Gotischen Gewölbe präsentierten Werke stammen aus diesen Erwerbungen.
Außerdem ist zu bedenken, dass gerade die Darstellung des Gekreuzigten dem Verlangen der Expressionisten nach einem ursprünglichen und unmittelbaren Ausdruck entsprach. Dies bezeugen die beiden Beispiele von Katharina Heise und Walter Prutz aus unserer Grafischen Sammlung.
Die Schwarz-Weiß-Fotografie vom Kopf Christi unseres Kruzifxes stammt aus der Sammlung von Kunstwerkreproduktionen des zweiten prägenden Direktors unseres Museums, Alois J. Schardt (1889–1955, Direktor 1926–1935), die dieser für seine umfangreichen publizistischen Aktivitäten anlegte.