08. Oktober 2021
Aenne Biermann – vom Wesen der Dinge
Fotografien in Halle (Saale) und Gera
Aenne Biermann (1898, Goch – 1933, Gera) ist eine jener faszinierenden jungen Fotografinnen der 1920er Jahre, die mit neuen Blickwinkeln, nahen Ansichten und ungewöhnlichen Bildausschnitten auf sich aufmerksam machten. Geboren als Anna Sibylla Sternefeld am Niederrhein, heiratete sie 1920 den Fabrikantensohn Herbert Biermann und zog nach Gera, wo heute im Museum für Angewandte Kunst ein großer Teil ihrer bekannten fotografischen Arbeiten aufbewahrt wird. In Gera begann sie als Autodidaktin zunächst ihre zwei Kinder, dann Dinge des Alltags, Pflanzen, Möbel, Gestein zu fotografieren. 1928 folgte die erste Ausstellung. 1929 nahm sie an der internationalen Werkbundausstellung „Film und Foto“ teil. Schon 1930 veranstaltete der Geraer Kunstverein eine erste erfolgreiche Personalausstellung in der Stadthalle, zeitgleich erschien die Monographie „Aenne Biermann. 60 Fotos“ des Kunstkritikers Franz Roh (1890– 1965), gestaltet von Jan Tschichold (1902– 1974) – Biermann war in der zeitgenössischen Fotoszene angekommen. Und doch entzieht sich ihr Werk heute durch tragische Umstände zu einem großen Teil der öffentlichen Kenntnis: 1933 erlag die erst 34 jährige einer schweren Erkrankung; ihr circa 3000 Negative umfassendes Archiv wurde auf der Flucht ihrer Familie nach Palästina beschlagnahmt und gilt heute größtenteils als verschollen.
Das erneute Interesse an der Fotografin und ihrem Werk wurde erst mit einer großen Retrospektive 1987 im Folkwang-Museum Essen wieder geweckt, die im Anschluss in ihrer Geburtsstadt Goch sowie in Gera gezeigt wurde. Davor beschäftigten sich nur wenige Kenner mit dem spannenden Œuvre der deutsch-jüdischen Fotografin. Ausstellungen in Essen, Gera, München, Köln und nun Tel Aviv (siehe Links im Infoteil) rückten ihr Werk letzthin erneut in den Fokus.
Im Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) finden sich zwei Pflanzenaufnahmen, die exemplarisch Auskunft über wichtige Facetten von Biermanns fotografischem Stil geben. Beide Abbildungen zeigen Orchideen, die Blüten sind formatfüllend und in Nahsicht ins Bild gesetzt. Der enge Ausschnitt fokussiert auf die kelchartigen Eigenschaften der Blüten. Hell-Dunkel-Kontraste und Lichtreflexe arbeiten weniger die Gesamtform als die Haptik der glatten, hautähnlichen Oberfläche heraus und legen die Struktur der „Pflanzenadern“ offen – Franz Roh nannte diese Form der Darstellung „die Binnenzeichnung plastisch bloßlegend“. Auffallend ist der schwarze Hintergrund, der die Blütenform aus ihrer Umgebung isoliert und gewissermaßen freistellt, den Blick auf das Wesentliche lenkt.
Die Motive reihen sich ein in eine größere Gruppe von Pflanzenaufnahmen Biermanns. Hier stehen jedoch nicht die klaren, kraftvoll linearen Formen im Vordergrund, wie in einigen anderen ihrer bekannten Bilder von Kakteen und Gummibäumen, sondern das Mystisch-Kleinteilige der Orchideen als wildwachsende Pflanzen. Die insgesamt dunkle Tonigkeit der Aufnahmen unterstützt diese Wirkung. Fast wird hier die Pflanze im Sinne eines Porträts als lebendige Form inszeniert, über die formale Blicklenkung gelingt Biermann die Erfassung des Wesentlichen des Gegenstands.
In der Sammlung des Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) knüpfen diese Bilder an den Bestand fotografischer Aufnahmen des Neuen Sehens von Hans Finsler (1891– 1972), Heinrich Koch (1896– 1934) und Gerda Leo (1909– 1993) an. Mit Letzterer verbinden Biermann zentrale Gestaltungselemente und Motivwelten: So wählt auch Leo oft enge Bildausschnitte in ihren markanten Hell-Dunkel-Porträts und insbesondere Naturaufnahmen von Bäumen und Nahsichten auf Keramiken sowie die spielerische Leichtigkeit, die vielen ihrer Kinderporträts anhaftet, atmen eine ästhetische Verwandtschaft beider Fotografinnen.
„Die Vorgänger jener ‚Neuen Seher‘ hatten um die Jahrhundertwende das technische Moment ihres Hilfsmittels mit handwerklicher Finesse auf ein erkennbares Minimum reduziert.Diese Abwehr belächelten die Protagonisten der Neuen Fotografie, indem sie die registrierende Funktion des Mediums kultivierten.Sie versanken geradezu im Detail, im Ausschnitt, in der mikroskopischen Vergrößerung, oder drehten und schwenkten ihre Kamera, bis diese neue Perspektiven, neue Ansichten erschloss.“ | ||
Ute Eskildsen |
Die Pflanzenaufnahmen stehen als Werkgruppe neben Landschaften, intensiven Porträts, grafisch strukturierten Aufnahmen im Stil des Neuen Sehens, an deren Anfang kristalline Gesteinsformationen standen und Bildern, mit denen Aenne Biermann es gelingt, wesenhafte Einblicke in die Welt der Kindheit zu geben. Einen Einblick in diese Themenbereiche vermittelt die Sammlung des Museums für Angewandte Kunst in Gera, das über einen Bestand von mehr als hundert Werken von Aenne Biermann verfügt – ein Anlass für uns zu einer kleinen, virtuellen Exkursion nach Thüringen:
Den Grundstock der umfassenden Sammlung von Werken der Fotografin im Museum für Angewandte Kunst in Gera bildete zunächst ein Bestand von 12 Aufnahmen, die bis 2000 im Stadtmuseum Gera bewahrt wurden. Darauf aufbauend, erwarb der Freistaat Thüringen mit der Kulturstiftung der Länder 2002 einige Fotografien aus dem Besitz des Sohnes Gershon Biermann. Durch das Engagement der Sparkassenstiftung Hessen-Thüringen konnten in den Jahren 1999 und 2002 zwei Konvolute aus den Nachlässen Biermann und dem mit der Familie befreundeten Architekten Thilo Schoder (1888– 1979) erworben werden. Sie befinden sich als Dauerleihgabe im Museum. Stetige Erwerbungen von Einzelblättern kamen hinzu. Darüber hinaus bewahrt das Stadtarchiv Gera einen Bestand von 20 Fotografien aus dem Nachlass des Judaica-Sammlers Werner Simsohn (1924– 2001). In den Jahren 1998 und 2018 fanden im Museum für Angewandte Kunst weitere monographische Ausstellungen statt. Sie dokumentierten die fortgesetzten Bemühungen zur Erwerbung weiterer Arbeiten Aenne Biermanns.
So übertrug das Naturkundemuseum Gera dem Museum in diesem Jahr 20 Aufnahmen aus dem Nachlass von Rudolf Hundt (1889– 1961). Der Geraer Geologe war mit Aenne Biermann befreundet und regte sie um 1927 dazu an, Aufnahmen für seine wissenschaftlichen Publikationen herzustellen.
Vor etwa 2 Jahren bat mich ein Geologe, für seine wissenschaftlichen Arbeiten den Versuch von sehr scharfen Steinaufnahmen zu machen, bei denen es in der Hauptsache auf die Herausarbeitung bestimmter Details ankam.
Durch diese Aufgabe wurde ich zu einer genaueren Beschäftigung mit den technischen Vorbedingungen hochwertiger Bilder gezwungen.
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Die Aufnahme eines Spurenfossils stellte Aenne Biermann vor besondere Herausforderungen in technischer Hinsicht. Die sachliche Sicht diente hier allein dem wissenschaftlichen Zweck, es kam auf die Tiefenschärfe an. Der Geologe Hundt illustrierte damit seine Werke. Für Aenne Biermann bedeutete die Aufgabenstellung eine neue Annäherung an die Fotografie, die mit einer intensiven Auseinandersetzung mit den visuellen und gestalterischen Möglichkeiten des Mediums einherging und den Grundstein für ihr weiteres fotografisches Schaffen legte.
Die Experimentierfreude Aenne Biermanns mit dem Gegenstand zeigen mehrere Aufnahmen eines Flügels. In einem Aufsatz fügt der Kunstkritiker Franz Roh drei dieser Aufnahmen zu einem Zyklus zusammen: Andante Maestoso – Scherzo – Finale. Am Ende arbeitet die Fotografin mit der Technik der Doppelbelichtung, um der musikalischen Steigerung Ausdruck zu verleihen. Sind Doppelbelichtungen im bekannten Schaffens Biermann die Ausnahme, so findet sich die Ausarbeitung grafischer Strukturen und der Stil der formatfüllenden Nahaufnahme immer wieder.
So handelt es sich bei diesem Abzug um einen Ausschnitt aus einem Porträt der befreundeten Anneliese Schiesser (die Familien Biermann und Schiesser betrieben gemeinsam ein Textilkaufhaus) mit dem Titel „Studie“. Durch die bewusst fragmentarische Ansicht wird der Blick auf das Wesentliche in den Gesichtszügen der Dargestellten gelenkt: Offenheit gegenüber der Fotografin, ohne die eigenen, introvertierten Züge zu verstecken. Die dynamisch-weiche Linienführung rundet das Bild ästhetisch ab. Aenne Biermann mochte das Motiv; 1932 stellte sie die „Studie“ mit drei weiteren Aufnahmen zusammen und bot sie dem Landesmuseum Oldenburg für eine Ausstellung an, „weil sie so gut zusammenklingen“.
Dienten die Aufnahmen ihrer Kinder anfangs noch der Erinnerung, wurden sie später zu Statisten für die Studien Aenne Biermanns. Hände waren ein beliebtes Motiv in der Fotografie der 1920er Jahre. Dieses Werk verwendete Franz Roh als Titelabbildung für die 1930 erschienene Monographie zu Biermanns Arbeiten.
Im Jahr 1930 besucht Aenne Biermann die Künstlerinsel Hiddensee. Das Motiv zeigt eine ihrer Landschaftsaufnahmen und entfernt sich damit von dem im Werk der Künstlerin sonst so relevanten Detail. Bei der Aufnahme geht es sowohl um die Darstellung der Insel als auch der Stimmung, ohne in das rein Sentimentale abzugleiten. Auch hier gelingt es Biermann, dem Wesenhaften der Dinge treu zu bleiben und das fotografische Medium so einzusetzen, dass dessen Möglichkeiten in der visuellen Darstellung zum Tragen kommen. Die verschiedenen horizontal verlaufenden Linien und Wellen werden im Bild feintonig herausgearbeitet und überführen die weite Landschaft besonders im Bildvordergrund hin zur Flächigkeit des fotografischen Bildes.
Mit dem Aenne-Biermann-Preis erinnert die Stadt Gera seit 1992 an die Künstlerin. Er gehört zu den renommierten deutschen Preisen zur Gegenwartsfotografie. Die Ausschreibung richtet sich sowohl an junge deutsche Absolventen, professionelle Fotografen als auch an Laien und Hobbyfotografen, um damit der Autodidaktin Aenne Biermann gerecht zu werden. Ausgewählte Arbeiten werden im Anschluss in die fotografische Sammlung des Museums integriert. In diesem Jahr findet die Ausstellung der Preisträger des 13. Aenne-Biermann-Preises vom 6.10. bis zum 28.11.2021 statt – ein aktueller Anlass mehr, in das Werk von Aenne Biermann einzutauchen.