06. Dezember 2021
„Der Maler ist das Auge der Welt“
(Otto Dix)
Otto Dix und Willi Sitte
Otto Dix
„
Intensiver Ausdruck ist für mich alles. Es ist mein Wunsch, unserer Gegenwart ganz nahezukommen, erschlagend zeitnah zu sein, ohne mich einem künstlerischen Dogma zu unterwerfen. Farbe und Form allein können nicht das fehlende Erleben und die fehlende Ergriffenheit ersetzen. Ich bin bemüht, mit meinen Bildern zur Sinngebung unserer Zeit zu gelangen, denn ich glaube, ein Bild muß vor allem einen Inhalt, ein Thema aussprechen. Malen ist ein Versuch, Ordnung zu schaffen. Kunst ist für mich Bannung.
“
Otto Dix, 16. November 1947 |
Willi Sitte
„
Alles Lebende ist vergänglich – / nur sie, die Kunst, sie dauert / ewig – ihr zu dienen, ist nichts / zu viel – ihr zu opfern, nichts / zu heilig. Durch sie, und wie der Mensch / sich zu ihr verhält, dokumentiert / sich der Mensch in seiner Qualität. / Wie Medizin dem Körper, so ist / sie der heilsamste Balsam für / krankende und gesunde Seelen.
“
Willi Sitte, 7. Oktober 1948
|
Eine persönliche Begegnung der beiden großen deutschen Realisten des 20. Jahrhunderts ist zwar nicht dokumentiert, wohl aber trafen sich ihre Werke in den zurückliegenden 70 Jahren mehrfach in Ausstellungen – erstmals 1949 in der 2. Deutschen Kunstausstellung in Dresden. Der bereits 58-jährige Otto Dix (1891–1969), der 1933 seine langjährige Wahlheimat Dresden vor den nationalsozialistischen Diffamierungen fliehend verlassen hatte und seit 1936 im westdeutschen Hemmenhofen am Bodensee lebte, präsentierte seine Große Auferstehung II, ein großformatiges Gemälde, das im Ausstellungsjahr gerade vollendet worden war. Der 30 Jahre jüngere Willi Sitte (1921–2013) zeigte seine Mischtechnik auf Papier Ende und Anfang (1948). Zwei sehr verschiedene Arbeiten, mit denen beide Künstler ihre Erfahrungen während der jüngst zurückliegenden Jahre verarbeiteten.
Dass Sitte mit Ende und Anfang (und sehr wahrscheinlich einer weiteren Arbeit) 1949 erstmals überregional öffentliche Wahrnehmung erfuhr, war bislang nicht bekannt und kann jetzt dank der hier gezeigten zeitgenössischen Ausstellungsansicht belegt werden. Laut Katalog der 2. Deutschen Kunstausstellung waren von ihm 1949 die Gemälde Zwei Welten I und II zu sehen, die jedoch weder fotografisch dokumentiert sind, noch ist heute ihr Verbleib bekannt.
Während für den einen, Dix, nach 1945 im Westen des geteilten Deutschlands die letzte Werkphase begann, suchte der andere, Sitte, im Osten des Landes nach einer ihm eigenen Bildsprache und seinen Platz in der Kunst wie in der Gesellschaft. Beide Künstler verstanden ihr Schaffen als aktive Auseinandersetzung mit ihrer Gegenwart. Otto Dix hatte vor 1933 mit seinen oft skandalumwitterten Gemälden das deutsche Feuilleton auf Trab gehalten. Verismus ist die Stilrichtung, in die sie die Kunstgeschichte einordnet. Vom Lateinischen verus – wahr abgeleitet, bezeichnet dieser Stil eine schonungslose, sozialkritische Darstellung der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Berühmt-berüchtigt ist Dix’ Ausspruch:
Vor 130 Jahren, am 2. Dezember 1891, kam dieser für die deutsche Kunst des 20. Jahrhunderts so bedeutende Künstler auf die Welt. Mit seinen Werken der 1920er Jahre wirkte er prägend auf die Nachkriegsgeneration vor allem im Osten Deutschlands, wo eine linke Alternative zum kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem entstehen sollte. Künstler wie Willi Sitte, dem wir gerade eine umfassende Retrospektive widmen, sahen sich ideell wie künstlerisch als legitime Erben Dix’. So finden sich in Sittes Schaffen verschiedene Bezugspunkte zu diesem.
Weitere Informationen zur Sonderausstellung
„Sittes Welt. Willi Sitte: Die Retrospektive“
Doppelporträts der Eltern
Otto Dix schuf zwei berühmte Doppelbildnisse seiner Eltern: das erste 1921 – heute im Kunstmuseum Basel, das zweite 1924 –heute im Sprengel Museum Hannover.
In beiden Werken zeigt der Maler seine Eltern auf einem Sofa sitzend – im ersten sind sie in ihrer Positionierung kompositorisch aufeinander bezogen, im zweiten sitzen sie nebeneinander und schauen aus dem bildimmanenten Raum hinaus in die Welt des Betrachters, ohne jedoch einen Blickkontakt mit diesem aufzunehmen. Während das erste Bild die Eltern als Arbeiter im Moment einer Pause festhält, kennzeichnet das zweite Gemälde ein deutlich repräsentativerer Charakter. Der stolze Sohn zeigt seine Eltern an einem wohl verdienten Ruhetag in ordentlicher Kleidung. Nicht zu übersehen sind ihr Alter und ihre von lebenslanger schwerer Arbeit geprägten Gesichter und Hände. Der Kunsthistoriker Dietrich Schubert (* 1941) schrieb 1973 über dieses Bild:
„Die Schwere des Lebens, die Dix anschaulich macht, bezieht sich hier nicht auf metaphysische Probleme, sondern auf die Schwere der Arbeit in der kapitalistischen Industrie, also auf das, was damals mit dem Schlagwort ‚Arbeitssklave‘ ausgedrückt wurde, als es noch keinen Acht-Stundentag gab […].“ | ||
Dietrich Schubert: Die Elternbildnisse von Otto Dix aus den Jahren 1921 und 1924. Beispiel einer Realismus-Wandlung, in: Städel-Jahrbuch Neue Folge 4 (1973), S. 271–298, hier S. 275. |
40 Jahre später, 1962, malte Willi Sitte sein erstes Doppelbildnis seiner Eltern und nannte es Meine Eltern von der LPG. Unübersehbar ist der Rückbezug auf Otto Dix’ Elternbildnisse.
Sitte platziert seine Eltern wie auch Dix in heimischer Umgebung, setzt sie jedoch nicht ungeschützt dem Blick des Betrachters aus, sondern platziert zwischen beiden Sphären als Distanz gebende Barriere einen Tisch, auf dem die Arbeit der Eltern thematisiert wird: Sie wirken in der Hühnerzucht der LPG und damit der täglichen Versorgung der Menschen u. a. mit frischen Eiern.
Wo im zweiten Elternbild von Dix rechts im Hintergrund ein Zettel an die Wand gepinnt ist, auf dem zu lesen ist: „Mein Vater 62 Jahre meine Mutter 61 Jahre alt gemalt im Jahre 1924“, findet sich an dieser Stelle in Sittes Werk die malerische Wiedergabe einer Fotografie, auf deren Rahmen zu lesen ist: „LPG P. Scholz – Oberorschel – 1961 – Vors. E. Sitte“. Die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) in Oberorschel im thüringischen Eichsfeld war eine der ersten in der DDR, benannt nach dem damaligen Minister für Land- und Forstwirtschaft (1950–1952) und späteren stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats der DDR (1952–1967), Paul Scholz (1902–1995). Über Jahrzehnte wurde sie geleitet von Sittes Bruder Ernst (1919–2009). Dort arbeiteten auch die Eltern der Geschwister, Josef (1884–1976) und Elisabeth (1890–1974).
Ähnlich den Elternbildnissen von Otto Dix thematisiert auch Willi Sitte die lebenslang schwere körperliche Arbeit der Eltern, indem er besonders deren Hände betont. Noch deutlicher ist dies im zweiten Elternbildnis Sittes zu erkennen.
Ähnlichen den Dix’schen Werken provozierten auch die Willi Sittes zeitgenössisch immer wieder die Kritik - wenn auch aus sehr untertschiedlichen Gründen. Was bei Dix ästhetische und moralische Argumente waren, waren bei Sitte ideologische. So teilten zum Beispiel die Genossen bei einer Aussprache in der Bezirksleitung der SED in Halle (Saale) Sitte mit:
„[…] und wir haben eine ganze Reihe von negativen Bemerkungen über das Bild […] abgewehrt, Dein Bild verteidigt gegenüber jenen, die in den Gesichtern Deiner Eltern zu viel Sorgenfalten sahen, die in den schwieligen Händen eine Mißdeutung unserer Gegenwart fanden und behaupteten, daß das doch nicht Hände eines LPG-Mitgliedes sein könnten, da man dort nicht so schwer arbeiten muß. Wir haben den Betreffenden geholfen, sich in die geschichtlichen Zusammenhänge zu versetzen und zu begreifen, daß wir die LPG erst seit 1952 haben und daß es sich hier um alte Menschen handelt, die sich schwielige Hände unter den Bedingungen der Einzelbauernwirtschaft geholt haben […].“ (Protokoll über die Aussprache mit Künstlern des Bezirks, 9. Januar 1963, Landesarchiv Sachsen-Anhalt, P 516, Nr. 5413, SED Bezirksleitung, Sekretariat, 1. Sekretär).
Im Falle des ersten Eltern-Doppelbildnisses Willi Sittes echauffierten sich die Kritiker der Partei in besonderem Maß vor allem an den Gestaltungselementen jenseits der Porträts der Eltern. So äußerte sich ein Genosse auf der erwähnten Parteiversammlung wie folgt:: „[…] und wenn man dann die modernistischen Schmierereien im Hintergrund sieht, fragt man sich, warum das.“ Etwas dezenter sprach Bernard Koenen (1889–1964), Erster Sekretär der Bezirksleitung der SED in Halle (Saale), in der Staatszeitung Neues Deutschland vom „Aufeinanderprallen von Prinzipien des sozialistischen Realismus und Tendenzen des Modernismus“ (Bernard Koenen: Erfolg und Schwanken bildender Künstler, in: Neues Deutschland, 19.12.1962, S. 6).
Sitte, der die Kritik der Kulturfunktionäre der SED an seinen Werken stets ernst nahm und sich mit ihr auseinandersetzte, schuf in der Folge ein Jahr später sein zweites Doppelbildnis der Eltern, das er 1963 in seiner ersten Einzelausstellung im Erfurter Angermuseum präsentierte. Was Dietrich Schubert über das Verhältnis der beiden Dix-Elternbildnisse zueinander schreibt, lässt sich durchaus auch für die Willi Sittes festhalten: „Mit anderen Worten scheint sich in der Arbeit vom ersten zum zweiten Bilde eine Selbstbewußtwerdung zu vollziehen, eine folgerichtige Selbstfindung des Malers Dix […].“ (ebd., S. 279 f.) 1964 erwarb unser Museum das Bild und setzte damit eine Tradition von Doppelbildnissen in der Gemäldesammlung fort, in der auch Otto Dix vertreten war.
Doppelbildnisse in der Gemäldesammlung des Museums
Ein erstes bedeutendes Doppelbildnis erwarb Max Sauerlandt (1880–1934) 1911 aus einer Ausstellung des Halleschen Kunstvereins. Von der Berliner Kunsthandlung Paul Cassirer kaufte er das Doppelbildnis Max Beckmanns (1884–1950) mit Minna Tube (1881–1964). Es ist ein bedeutendes Porträtgemälde aus dem frühen Schaffen des Künstlers und zeigt diesen stehend neben seiner Frau, sich mit dem linken Arm auf die Lehne des Stuhls stützend, auf dem Minna Tube sitzt. Beide Personen beschreiben in ihren äußeren Umrissen eine Ellipse, was dazu führt, dass sie sich gleichzeitig aufeinander zu und voneinander weg bewegen. Frontal aus dem Bild heraus auf den Betrachter schauend, vermittelt sich wenig Gemeinsamkeit.
Steht am Beginn von Sauerlandts Wirken für unser Museum der Coup des Erwerbs des Beckmann’schen Doppelbildnisses, so zählt zu einer seiner letzten Vermittlungen für „sein“ Museum, dessen Entwicklung er ab 1919 aus dem fernen Hamburg maßgeblich steuerte, im Juni 1926 der Ankauf des Dix’schen Doppelbildnisses.
1923 vollendete der 32-jährige Maler das elegante lebensgroße Porträt von sich und seiner Gattin Martha Lindner, gesch. Koch (1895–1985) , die er gerade geheiratet hatte. Das Bildnis ist gleichsam ihr Hochzeitsbildnis und von schonungsloser Direktheit reich an Überzeichnung. Im Jahr seiner Entstehung charakterisierte es der Kunsthistoriker Willi Wolfradt (1892–1988) wie folgt: „Mondäne Kühle, tadellose Haltung, eine sich durch affektiertes Zögern noch erhöhende Sicherheit des Auftretens.“ (Willi Wolfradt: Ein Doppelbildnis von Otto Dix, in: Der Cicerone 15 (1923) 4, S. 173–178, hier: S. 177)
Gegenüber der melancholisch distanzierten Zurückhaltung im Bilde Beckmanns kennzeichnet Dix’ Bildnis ein „unverlegene[s], fast schamlos pralle[s] en face der füllenden Breitstellung, diese geschmeidig-verpanzerte Front lüsterner Energie“ (ebd.). Es war ein besonders radikales Werk im Bildnis-Schaffen Otto Dix’ und entsprechend rechnete es Max Sauerlandt zu den „Höchstleistungen“ der zeitgenössischen Kunst (Sauerlandt am 3. Mai 1926 in einem Brief an den Halleschen Kunstverein).
„Dies Bild ist ein Stück revolutionärer Justiz. In der Stofflichkeit solchen Darstellens wird der Materialismus eines ganzen Menschengeschlechts bloßgestellt. In der linearen Starre die verruchte Lebensfeindlichkeit einer mechanisierten Konsumentenrasse. Ein Künstler, der sich vom Fluche solcher Zeit mitgetroffen fühlt und mit jedem Pinselstrich spielend den Beweis erbringt, wie seine Virtuosität ihr die kongruente Kunst, einen extremen Illusionismus und heroisierenden Reklame-Porträtstil, liefern könnte, sühnt durch ironische Reklination diese Zugehörigkeit und befreit sich durch dieselbe Sachlichkeit von ihr, die ihr Laster ist. Er nimmt ihre Prahlerei, ihren Kitsch, ihre Schneidigkeit mit auf — und alles kommt als Schrei von der glatten Leinwand zurück.
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Willi Wolfradt, 1923 |
Tragischer Weise wurde dieses epochale Werk von Otto Dix 1937 von den Nationalsozialisten gemeinsam mit 146 weiteren Werken als „entartet“ beschlagnahmt. Ab 1938 gehörte es zum Sonderbestand des NS-Propagandaministeriums – bis heute fehlt von ihm jede Spur! Wir sind für jeden Hinweis auf den weiteren Verbleib in höchstem Maß dankbar.
Unsere erste, 1937 verlorene Moderne-Sammlung rekonstruierten wir 2019 in der Ausstellung Bauhaus Meister Moderne. Das Comeback.
Weitere Informationen zur Sonderausstellung
„Bauhaus Meister Moderne. Das Comeback“
Seit dem Ende des „Dritten Reichs“ bauten die Direktoren und Kustoden unseres Museums eine Dix-Sammlung auf, die heute mehr als 30 vor allem grafische Arbeiten umfasst, darunter eine frühe um 1912 entstandene Landschaft in Öl sowie die 1942 vollendete Versuchung des heiligen Antonius, die das Museum 1964 von dem Altenburger Kunsthändler Julius Brauer (1891–1969) erwarb.
Das Bild ist Teil der permanenten Sammlungspräsentation Wege der Moderne. Kunst in Deutschland im 20. Jahrhundert und steht dort für die unterschiedlichen Landschaftsauffassungen von Künstlern der Moderne und nationalsozialistischen Künstlern.
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„Wege der Moderne“
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„Wege der Moderne“