05. Juni 2020
Der Bauhaus-Meister
Wassily Kandinsky
in Halle (Saale)
Das Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), 1885 gegründet als Städtisches Museum für Kunst und Kunstgewerbe, entwickelte sich vor und nach dem Ersten Weltkrieg unter seinen ersten beiden Direktoren, Max Sauerlandt (1908–1914) und Alois Schardt (1926–1933), zu einem der führenden Museen für die damals zeitgenössische Kunst – die Kunst der heute sogenannten klassischen Moderne.
Während Sauerlandt mit dem damals umstrittenen Ankauf des Abendmahls von Emil Nolde (1867–1956) die Sammlung für den deutschen Expressionismus öffnete, ist es das Verdienst Schardts, die abstrakten Positionen der 1920er Jahre in die Sammlung aufgenommen zu haben. So erwarb er 1929 ein Konvolut von Arbeiten des russischen Konstruktivisten El Lissitzky (1890–1941).
Hier geht's zu unserem Beitrag über Noldes Gemälde.
Im gleichen Jahr erwarb Schardt auch fünf Aquarelle Wassily Kandinskys (1866–1944), nachdem er bereits zwei Jahre zuvor, 1927, zwei Aquarelle des Künstlers ankaufen konnte. Ein achtes Aquarell ist durch die Beschlagnahmung im Rahmen der nationalsozialistischen Aktion „Entartete Kunst“ für das Museum dokumentiert.
1929: Kandinsky-Ausstellung in Halle (Saale)
Der Erwerb der Aquarelle 1929 ist kein Zufall. Vom 4. bis 28. Oktober des Jahres fand in Halle (Saale) eine große Einzelausstellung mit Aquarellen und Gemälden Wassily Kandinskys statt, die das Museum gemeinsam mit dem Halleschen Kunstverein organisierte. Die Aquarelle wurden in den Räumlichkeiten im Roten Turm auf dem Marktplatz präsentiert, die Gemälde in der Kirche in der Neuen Residenz am Domplatz.
Die Halleschen Nachrichten berichteten am 18. Oktober 1929 über die Schau: „Selten wird ein so geschlossener Überblick über das Werk eines Künstlers geboten werden, seine Entwicklung so augenfällig werden wie hier.“ und titelten vom „Zauber der unerhörten Farben, de[n] seltsamen Farbklänge[n]“ sowie von „Farblichtmusik“. Der Artikel schloss mit dem Fazit: „Seien wir dankbar, dass wir in Halle ein so großes, geschlossenes Werk eines Künstlers sehen und genießen dürfen.“
Museumsdirektor Alois J. Schardt kannte Kandinsky bereits aus seiner Zeit in Dresden-Hellerau, wo er 1925 am dortigen Festspielhaus eine Galerie moderner Kunst mit Leihgaben von den Künstlern selbst eingerichtet hatte. Darüber berichteten 2019 Ausstellung und Katalog Zukunftsräume. Kandinsky, Mondrian, Lissitzky und die abstrakt-konstruktive Avantgarde in Dresden 1919 bis 1932 der Gemäldegalerie Neue Meister der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden.
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Die Erwerbungen der Aquarelle
1926 wechselte Schardt von der Elbe an die Saale, übernahm die Leitung des hiesigen Museums und erwarb bereits im Folgejahr, 1927, die ersten beiden Werke von Kandinsky: Konzentriertes (1916) und Dynamische Studie (1924, leider keine Abbildung bekannt).
Im Zuge der Ausstellung des Bauhaus-Meisters in der Saalestadt zwei Jahre später verfolgte Schardt das Ziel, diesen Bestand weiter auszubauen. So schreibt der Maler Lyonel Feininger (1871–1956), der seit Mai des Jahres ein Atelier im Torturm der Moritzburg hatte, am 9. Oktober 1929 an seine Frau: „Gestern Abend waren Frankls zum Abendessen bei Schardts. Das Gespräch drehte sich viel um die herrlichen neuen Aquarelle von Kandinsky. Sie sind alle begeistert davon. Schardt möchte so gerne einen Raum damit einrichten, im Museum – aber der Preis – bei einzelnen 1.000 Mark, sei ihm unmöglich durchzusetzen.“
Schließlich erwarb Schardt vier Aquarelle direkt aus der Ausstellung: Giftgrüne Sichel (1927), Belastung (1928), Zwei Komplexe (1928) und Nach rechts (1929). Abstieg (1925) und Abschluss (1924) waren nicht Teil der Ausstellung und kamen vom Künstler aus Dessau.
Am 25. November 1929 bestätigte die Museumsdeputation den Ankauf, der zwei Tage später, am 27. November, vollzogen werden konnte.
1933-1945: Das Schicksal der Werke
Bis auf das Aquarell Konzentriertes wurde der gesamte Bestand 1937 als „entartet“ beschlagnahmt und zum Teil in der Feme-Ausstellung „Entartete Kunst“ in München präsentiert.
Bereits unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Alois J. Schardt für seine progressive, der Moderne verpflichteten Sammlungs- und Ausstellungspolitik von nationalistischen Kreisen und von Personen, die sich in der Weimarer Republik nicht ausreichend wahrgenommen und gewürdigt fühlten, angegriffen.
Am 28. Dezember 1933 informiert Wassily Kandinsky in einem ausführlichen Brief den Museumsdirektor in Halle (Saale) über seine Emigration nach Frankreich und seine dortigen Lebensumstände.
Bis 1935 konnte Schardt die Forderungen des nationalsozialistischen Oberbürgermeisters der Saalestadt, die Moderne-Sammlung abzuhängen, aussitzen und nicht umsetzen. Im Februar 1935 wurde er zwangsweise beurlaubt und übernahm der Direktor der Kunstschule in der Burg Giebichenstein, Hermann Schiebel (1896–1973), die Leitung des Museums. Ihm oblag es, die renommierte Moderne-Sammlung auszusondern. Am 27. November 1935 wurde im Dachgeschoss des Talamts im Südflügel der Moritzburg die Sonderpräsentation "Entartete Kunst" eröffnet.
Am 1. Dezember 1935 schreibt Schardt aus Halle (Saale) an Kandinsky in Paris: „Ihre Aquarelle hängen in Halle noch in einem Raum zusammen und sind ebenso wie alle anderen – auch Klee – der Öffentlichkeit zugänglich.“
Die sieben beschlagnahmten Aquarelle wurden zum Teil über die Kunsthändler Hildebrand Gurlitt (1895–1956) und Ferdinand Moeller "verwertet". Das Schicksal der Dynamischen Studie ist bis heute unbekannt. Am 12. Dezember 1939 erhielt es der Sammler Emanuel Fohn (1881–1966) im Tausch. Der Verbleib des Werks bis heute ist nicht bekannt.
Das Aquarell Konzentriertes wurde 1937 glücklicherweise nicht beschlagnahmt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde es hinter einer Wandvertäfelung gefunden, sodass anzunehmen ist, dass es von den Museumsmitarbeitern bewusst versteckt und der Beschlagnahme entzogen wurde.
Zwei der verlorenen Aquarelle befinden sich heute in öffentlichem Museumsbesitz im Solomon R. Guggenheim Museum, New York, und im Nationalmuseum von Wales in Cardiff. Die übrigen Werke sind in Privatbesitz.
1948/49: Glückliches Intermezzo
Der erste Nachkriegsdirektor des Museums, Gerhard Händler (1906–1982), stand 1947 vor der Aufgabe, ein Museum wieder zu eröffnen, das für die Kunst der Moderne bekannt war, jedoch über keine Sammlung moderner Kunst mehr verfügte. Nahezu alle vor 1933 erworbenen Gemälde der Avantgarde-Kunst waren 1937 von den Nationalsozialisten als "entartet" beschlagnahmt und aus dem Museum entfernt worden.
Händler war es jedoch vergönnt, 1947/48 mit Mitteln des Ministeriums für Volksbildung der Sowjetischen Militäradministration eine neue Sammlung aufzubauen, die in der Tradition der verlorenen stand und die Lücken moderner Kunst, die zwischen 1933 und 1945 entstanden waren, schloss. Dabei arbeitete er u. a. auch mit Leihgaben von privaten Sammlern, wie dem halleschen Unternehmer und Kunstsammler Felix Weise. Aus dem Besitz des Berliner Kunsthändlers Ferdinand Moeller (1882–1956) konnte er in seiner Sammlungsschau das Gemälde Improvisation V von 1915 zeigen. Sie ergänzte auf hervorragende Weise das 1937 nicht beschlagnahmte Aquarell Konzentriertes von 1916.
Im Oktober 1948 konnte Händler seine neu zusammengestellte Sammlung der Öffentlichkeit präsentieren. Die ersten Reaktion in der Presse waren zwiegespalten. Während die Zeitschrift bildende kunst die Präsentation lobte, zeigt der Artikel in der Tageszeitung Freiheit, dass die Museumseröffnung bereits im Kontext der heftig geführten Formalismusdebatte stand: „Betrachtet man die Ausstellung von der
pädagogischen Seite her, dann sind wohl auch die Auswüchse experimentell darzulegen, wenn man zeigen will, wie es nicht gemacht werden soll. […] Andererseits ist festzustellen, dass die völlig Abwegigen um Kandinsky und Paul Klee auf ihren ferneren Lebenswegen […] die Rückkehr zu klassizistischem Schaffen fanden.“
Im Januar 1949 erhielt Gerhard Händler Besuch von Gerhard Strauß (1908–1984), Vertreter der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung in der Sowjetischen Besatzungszone. Dieser Kulturfunktionär bemängelte an der neuen Sammlungspräsentation „das Fehlen gesellschaftspolitischer Gesichtspunkte und das Fehlen von Kunstwerken ‚realistischen Stils‘“ und schlug vor, „am Eingang zu den Räumen des Expressionismus ein Hinweisschild anzubringen: ‚bürgerliche Verfallskunst und Ansätze zur neuen Gestaltung‘. […] Die Expressionisten seien der Widerschein des Faschismus.“ Des Weiteren sollte Händler „Überlegungen an[...]stellen, wie das Museum im [vorgegebenen] Sinne […] korrigiert werden könne“.
Diesen die Kunst der Moderne neuerlich diffamierenden Anweisungen entzog sich Händler durch Flucht über Berlin in die westlichen Besatzungszonen. Von 1954 bis 1970 war er Direktor des Lehmbruck Museums in Duisburg. Im Mai 1949 zog Ferdinand Moeller seine Leihgabe des Kandinsky-Gemäldes zurück. Die Werke der Moderne rückten im Zuge des Kalten Krieges bis in die 1970er Jahre aus dem Fokus der öffentlichen Wahrnehmung.
2017: Rückkauf eines der verlorenen Aquarelle
2015 eröffnete sich die einmalige Gelegenheit, eines der 1937 beschlagnahmten Aquarelle, das Blatt Abstieg, zurückerwerben zu können.
Für die amerikanische Kunsthistorikerin Vivian Barnett, Verfasserin des Werkverzeichnisses der Aquarelle Kandinskys, handelt es sich bei diesem Aquarell um eine besondere Arbeit, denn Kandinsky hatte 1925, dem Entstehungsjahr des Blattes, lediglich 23 Aquarelle geschaffen. 1925 ist auch das Jahr, in dem der Bauhaus-Meister mit der Schule von Weimar nach Dessau zog. Das Aquarell Abstieg ist eine der ersten Arbeiten, die nach der Übersiedlung im Sommer 1925 in Dessau entstanden.
Von den einstmals in der Sammlung des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale) befindlichen Aquarellen war Abstieg „a more important work among those that once were in your museum collection“ (Vivian Barnett).
Im Dezember 2019 produzierte der MDR im Rahmen der "Versteckten Museumsschätze" eine Folge über unser Kandinsky-Aquarell Abstieg.
Provenienz des Aquarells „Abstieg“
1929 | Ankauf von der Galerie Neue Kunst Fides, Dresden, für 600 Mark | |
08.07.1937 | Beschlagnahme durch das Deutsche Reich, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, Berlin, Lagerung in Berlin, Depot Schloss Schönhausen, Bestand „international verwertbarer“ Werke, EK-Nr. 16077 | |
22.05.1940 | Verkauf an Hildebrand Gurlitt, Hamburg, für 20 Schweizer Franken | |
xx | Privatbesitz Hagen/Westfalen | |
03.12.1964 | Lempertz, Köln, Auktion 480, Lot 316, Taxe: 14.000 Mark, verkauft für 12.000 Mark | |
xx | Privatbesitz Wuppertal, später München | |
xx | M. Knoedler and Co., New York | |
1967 | N. Richard Miller, Philadelphia | |
1983 | Stephen Mazoh and Co., New York | |
späte 1980er Jahre | Privatbesitz Japan | |
2017 | Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Rückkauf, vermittelt durch Christie’s, London, mit Unterstützung der Ernst von Siemens Kunststiftung, der Kulturstiftung der Länder, der Saalesparkasse und des Landes Sachsen-Anhalt |
2019: Bauhaus-Jubiläum - Kandinsky in Halle (Saale)
Anlässlich des 100. Jubiläums der Gründung des Bauhauses im Jahr 2019 fand unsere aufwendige Ausstellung Bauhaus Meister Moderne. Das Comeback statt. Unter anderem rekonstruierten wir die 1937 verloren gegangene erste Moderne-Sammlung unseres Museums und konnten in diesem Zusammenhang vier der einstmals acht Aquarelle von Wassily Kandinsky präsentieren.
Im zweiten Obergeschoss des Westflügels zeigten wir Werke der fünf Bauhaus-Meister Feininger, Kandinsky, Klee, Muche und Schlemmer, die während der 14 Jahre des Bestehens des Bauhauses zwischen 1919 und 1933 entstanden.
Und schließlich hatten wir gemeinsam mit der Porzellanmanufaktur Meissen die in unserer Grafischen Sammlung befindlichen Dekore-Entwürfe Kandinskys für Porzellane aus dem Jahr 1922 in einer Sonderedition realisiert.
Über all dies informieren die nachstehenden Links: