04. August 2022
Hinter den Stromschnellen
Die Stadt Saporischschja als Industriestandort in der sowjetischen Medaillenkunst
Malerisch am Fluss Dnepr gelegen erscheint die Stadt Saporischschja als wirtschaftliches und kulturelles Zentrum der südöstlichen Ukraine. Neben Theatern und Museen beherbergt die Stadt auch eine blühende Industrie im Bereich der Energieversorgung und des Abbaus von Kohle, Eisen und Mangan. Damit ist Saporischschja elementar für die Versorgung des ganzen Landes. Veranlasst durch die russische Invasion entstand im Museum der Gedanke, unseren Bestand an ukrainischen Kunstwerken zu durchforsten und dabei fiel eine kleine Medaille aus sowjetischer Zeit auf, die sich mit der Stadt Saporischschja und ihrer Geschichte beschäftigt. Grund genug, einen detaillierteren Blick auf die Medaille und ihre Hintergründe zu werfen.
Zunächst erweckt die Medaille keinen hochwertigen Eindruck. Mit 35 mm Durchmesser gehört sie zu den kleineren Stücken und mit einem Gewicht von 25 Gramm auch eher zu den leichteren Exemplaren, die sich in der Sammlung finden. Sie ist mit einer goldenen Lackierung beschichtet und besteht aus einem leichten Material, wahrscheinlich Aluminium. Dies deutet auch auf den Massencharakter des Stückes hin, da es für sowjetische Medaillen nicht unüblich war, in hohen Auflagen hergestellt und vertrieben zu werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich in der Darstellung um ein Jubiläum handelt. Die Saporischschja-Medaille wurde anlässlich des 200. Jahrestags der Stadt im Jahr 1970 geprägt. Dabei wird die Erbauung der Olexanderfestung im Jahr 1770 als Gründungsjahr und -zeitpunkt angenommen. Diese Festung entstand als Teil der „Dnepr-Linie“, einer Art Schutzwall aus befestigten Anlagen im südlichen Teil des Russischen Reiches, der vor Tartaren und dem sich ausdehnenden Osmanischen Reich schützen sollte. Der Typus der Medaille ist in der sowjetischen Medaillenkunst recht häufig anzutreffen. Gerade Industrieanlagen finden sich oft als Motiv auf Gedenkmünzen und -medaillen wieder, um die Bedeutung für die Sowjetunion (und die Bevölkerung) zu unterstreichen.
Auf der Medaille von Saporischschja ist allerdings nicht die Festung dargestellt, sondern es sind zwei ganz unterschiedliche Ansichten aus der Geschichte der Stadt und Region selbst zu sehen. Vorderseitig, oberhalb der eingeprägten Jahreszahl 1970, befindet sich das größte Wasserkraftwerk in der Ukraine:DniproHES. Dieses liegt am Stausee von Saporischschja und war bis zur Erbauung der Kraftwerke an der Wolga das größte Wasserkraftwerk in ganz Europa. Umrahmt wird es von Kornähren, was den Charakter der Ukraine als „Kornkammer Europas“ betont. DniproHES hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Bereits vor seiner Erbauung gab es in der Region Pläne, den Fluss Dnepr und seine Stromschnellen passier- und schiffbar zu machen. Der Name der Stadt Saporischschja spielt dabei auf selbige Stromschnellen an, da er übersetzt „hinter den Stromschnellen“ bedeutet.
Unter Lenin wurde zunächst ein Plan zur „Elektrifizierung des Landes“, der GOELRO-Plan (Akronym aus dem Russischen: ГОЭЛРО – Государственный план электрификации России, deutsch: Staatsplan zur Elektrifizierung Russlands), entwickelt. Dabei entstanden in der gesamten Sowjetunion Kraftwerke, um dem rückschrittlichen Land eine starke Wirtschaftskraft zu entwickeln. Eingeweiht wurde das Wasserkraftwerk allerdings erst am 1. Mai 1932. Bis zum Zweiten Weltkrieg lief der Betrieb relativ reibungslos. Im September 1941 wurde das Kraftwerk schwer beschädigt, als Teile der sich zurückziehenden Roten Armee ein 200 m großes Loch in die Staumauer sprengten, um der anrückenden Wehrmacht entkommen zu können. Die dadurch ausgelöste Druckwelle beschädigte die Staumauer des Kraftwerks, sodass eine Flutwelle zwischen 20 000 und 100 000 Menschen das Leben kostete. Exakte Daten liegen leider nicht vor. 1978 konnte das Kraftwerk wieder vollständig in Betrieb genommen werden und versorgt seitdem, mit Unterbrechungen durch den Angriffskrieg, die ganze Ukraine mit Strom.
Auf der Rückseite der Medaille befinden sich die Jahreszahl 1770 und abermals der Name der Stadt Saporischschja. Mittig ist ein Drachenboot der Wikinger unter einer Sonne fahrend dargestellt sowie eine Rahmung durch zwei Scimitare, Schwerter, wie sie im orientalischen Raum verbreitet waren. Durch die Kombination aus Drachenboot und Scimitar spielt diese Seite der Medaille auf die zentrale Bedeutung der Region um Saporischschja für den Handel des Mittelalters an. Gemeint ist hierbei eine der wichtigsten Routen des östlichen Handelsraumes über die Wasserwege Osteuropas, den „Weg von den Warägern zu den Griechen“. Die Waräger waren Händler und Krieger aus dem nördlichen Europa, welche seit dem 8. Jahrhundert und den beginnenden Wikingereinfällen ihre Handelsrouten nach Osteuropa und Asien ausbreiteten und, unter anderem, die Stadt Kiew gründeten. Insbesondere das Reich der Rjurikiden, welches auf den Gründer des Kiewer Reiches, Rjurik, zurückgeht, ist für die Region um Saporischschja von maßgeblicher Bedeutung gewesen, da diese Nachkommen der Waräger eines der ersten stabilen slawisch-warägerischen Reiche gründeten und eine zentrale Handelsmacht in der Region darstellten. Beendet wurde diese Bedeutung durch die Mongolen ab 1206, welche die Handelswege über die Flüsse Osteuropas unpassierbar machten und die blühenden Zentren zerstörten.
Heute unterhält Saporischschja viele Städtepartnerschaften in der ganzen Welt, unter anderem auch mit Magdeburg. Insgesamt hat die Stadt sieben Hochschulen und konnte sich nach dem Zerfall der Sowjetunion in die unabhängige Ukraine eingliedern und erneut zum sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Knotenpunkt entwicklen. Durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine entstanden gerade dort allerdings schwerste Schäden, da Saporischschja auch für die wirtschaftliche Region des Donbas große Bedeutung hat und damit ein kriegswichtiges Ziel darstellt. Die kleine Medaille kann dabei als Erinnerung an die Bedeutung der Region dienen und ein Bewusstsein für selbige auch außerhalb der Ukraine schaffen.