01. Dezember 2023
Ernst Ludwig Kirchner und Halle (Saale)
Eines der bekanntesten Stadtbilder des berühmten Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) ist der „Rote Turm in Halle“. 1915 gemalt, gehört das eindrucksvolle Gemälde seit 1953 zur Sammlung des Museums Folkwang in Essen. Dieses erwarb es über die Galerie Grosshennig in Düsseldorf aus der Sammlung von Frédéric Bauer (1883–1957), Chefarzt des Parksanatoriums Guardaval im schweizerischen Davos und einer der wichtigsten Förderer und Vertrauten des Künstlers. Kirchner lebte aufgrund seiner angegriffenen Gesundheit seit 1917 in dem Alpenort, wo Bauer das Halle-Bild 1929 in seine Sammlung aufnahm.
Das Gemälde zeigt eine der berühmtesten Architekturen der Saalestadt in einer charakteristischen expressionistischen Dramatisierung. Ausschließlich in Blaugrau- und Rottönen gehalten, gibt es den Blick auf den Roten Turm und die Marktkirche wieder – das hallesche Stadtbild prägende Gebäude, die 14 Jahre später den Bauhaus-Meister Lyonel Feininger (1871–1956) zu seinem einzigartigen Halle-Zyklus inspirierten. Der Betrachterstandpunkt befindet sich an der Ecke Schmeerstraße/Marktplatz, vermutlich von einem der oberen Stockwerke des Stadthauses gesehen, mit Blick in Richtung Kleinschmieden. Indem Kirchner die gesamte Szene in ein kaltes Blaugrau taucht, das nur von den Verkehrsachsen, der Umbauung des Roten Turms und einer Straßenbahn blutrot durchzogen wird, vermittelt die Darstellung Assoziationen von Verletzung, Angst und Gequältsein.
Diese Stimmung deckt sich mit dem Gesundheitszustand des Künstlers im Jahr der Entstehung des Bildes. Nachdem Kirchner sich im August 1914 als Freiwilliger für den Kriegsdienst gemeldet hatte, kam er im Juli 1915 nach Halle (Saale), wo er beim Mansfelder Feldartillerie-Regiment Nr. 75 in der Artillerie-Kaserne an der Merseburger Straße ausgebildet wurde. Kirchner selbst konstatierte: „Das Militär lag mir nicht. Ich lernte zwar Reiten und Pferdepflege, hatte aber für die Canonen nichts übrig. Der Dienst wurde zu schwer für mich […].“ (Gordon 1968, S. 24) Nach „physischer Erschöpfung und einem Nervenzusammenbruch“ (ebd., S. 24 f.) wurde er bereits Anfang September für dienstuntauglich erklärt und begannen zahlreiche Sanatoriumsaufenthalte in Königstein im Taunus, Berlin, Davos und Kreuzlingen am Bodensee.
Der militärische Drill der preußischen Armee hatte sich nachhaltig negativ auf die ohnehin durch sein exzessives Leben angeschlagene physische und psychische Gesundheit des Künstlers ausgewirkt und prägte ihn bis zu seinem Freitod im Jahr 1938.
Aus der Militär-Erfahrung 1915 in Halle (Saale) resultieren neben dem eindrucksvollen Gemälde von Rotem Turm und Marktkirche einige Zeichnungen und Druckgrafiken. Nahezu unbekannt ist bis heute, dass es eine zweite in Öl gemalte Ansicht der Stadt Halle (Saale) von der Hand Ernst Ludwig Kirchners gibt.
Das undatierte Gemälde entstand entweder ebenfalls 1915 oder im Folgejahr 1916 nach einem kurzen zweiten Aufenthalt des Malers in der Saalestadt im September, wo er seinen Freund und Mäzen Botho Graef (1857–1917) besuchte, der hier als Soldat stationiert war. Das seit seiner Entstehung in Privatbesitz befindliche Gemälde wurde im Werkverzeichnis von Donald E. Gordon 1968 unter der Nummer 461 irrtümlich als „Straße in Königstein“ erfasst. In einem Brief Kirchners von Anfang Januar 1917 an Irene Eucken (1863–1941), die das Gemälde kurz zuvor gemeinsam mit ihrem Mann, dem Philosophen Rudolf Eucken (1846–1926), erworben hatte, konstatierte der Maler: „Die Erwerbung des 2 Bildes es ist ein Platz in Halle erfreut mich sehr […].“ (zitiert nach Delfs 2010, Nr. 349, S. 153) Das Gemälde war seit seiner zeitgenössischen Erstpräsentation im Kunstverein Jena bislang nur ein einziges Mal öffentlich zu sehen, 2010 in der großen Kirchner-Retrospektive des Städel Museums in Frankfurt am Main. In einem Artikel über Kirchner und Irene Eucken nahm Volker Wahl 2009 bezüglich des Motivs folgende Zuschreibung vor:
„Der Inhalt des ‚Stadtbildes‘ mit den ‚Blätterpflanzen, dahinter drei Häuser‘ [so die Beschreibung im Ausstellungskatalog Jena 1917 – Anm. d. Verf.] lässt sich nach den heutigen topographischen Verhältnissen von den von Kirchner wiedergegebenen Gebäudeansichten mit den Ecktürmen auf der linken und rechten Bildseite her nicht eindeutig bestimmen. Offenbar hat Kirchner die Gesamtsituation perspektivisch verändert. Erkennbar ist im Vordergrund ein damals bewachsener Platz und im Hintergrund die Moritzburg mit dem markanten Eingangsturm (übereinstimmend Dachform und Fensteranordnung oberhalb des Dachfirstes), die gerade abgehenden Seitenflügel sind allerdings perspektivisch nach hinten gezogen. Bei dem Platz handelt es sich möglicherweise um den davor liegenden heutigen Friedemann-Bach-Platz (früher Paradeplatz). Für Hinweise zu dieser Identifizierung danke ich dem Hallenser Stadtarchivar Ralf Jacob sowie Dr. Renate Grumach in Berlin und Prof. Dr. Dorothea Kuhn in Weimar.
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Wahl 2009, Anm. 46, S. 329 |
Betrachtet man das Motiv genauer, wird schnell deutlich, dass es sich kaum um den heutigen Friedemann-Bach-Platz mit der Moritzburg handeln kann. Zeitgenössisch gab es an dieser Stelle keine Bebauung und Grünanlagen, die den Maler zu einem solchen Motiv hätten anregen können. Auch stimmen Dachform und Fensteranordnung des mittleren Turms auf dem Gemälde nicht mit dem Torturm im Ostflügel der Moritzburg überein. Wohl aber spricht Vieles dafür, dass es sich bei der dargestellten Topografie um die Passage der Großen Steinstraße am alten Hauptpostamt am heutigen Joliot-Curie-Platz (damals: Alte Promenade) mit Blick hinunter zum Marktplatz handelt. Diese These stützen verschiedene zeitgenössische Ansichtskarten, die die Bepflanzung der Grünanlage vor der Hauptpost mit einer großen zentralen Palme und darunter befindlichen rotblühenden Pflanzen belegen und den Blick in die untere Große Steinstraße zeigen.
Außerdem existieren in einem auf 1915 datierten Skizzenbuch des Künstlers zwei Zeichnungen, die die Standort-These eindeutig verifizieren. Sie zeigen einmal den Blick am unteren Ende des Platzes auf die Ecke Steinstraße/Poststraße (heute Hansering) mit den in beide Straßen abgehenden Flügeln des Hotels Stadt Hamburg und einmal die Gegenrichtung hinauf zum Opernhaus mit der markanten Siegessäule in der Blickachse.
Kirchners urbane Komposition ist freilich keine topografisch genaue Darstellung, sondern eine freie künstlerische Arbeit. Vermutlich hat er das Bild zudem mit einigem zeitlichen Abstand zum tatsächlichen optischen Eindruck vor Ort und der Entstehung der Skizze in seinem Atelier in der Körnerstraße 45 im Berliner Stadtteil Steglitz ausgeführt. Was den Maler vermutlich reizte und zur Arbeit an dem Gemälde motivierte, war die imposante Flucht der beiden Flügel des Hotels Stadt Hamburg mit dem prägnanten Eckrisalit und seinem flachen Dach.
Diese Situation platzierte er frei wiedergegeben im Zentrum des Gemäldes. Die rechte Architektur dürfte – aus der Erinnerung eingepasst – der Rote Turm sein, wie er sich auch auf der historischen Postkarte am Ende der Flucht der unteren Großen Steinstraße zeigt. Kirchner zieht den Turm jedoch weit nach vorn in den Vordergrund. Das Gebäude an der linken Seite ist demzufolge frei stilisiert der Anschnitt des Hauptpostamts. Kirchner hat offenbar den kleinen Turm an der Ecke der Fassade zu einer Art Eckturm monumentalisiert. Die durch die Ansichtskarten belegte Grünanlagengestaltung mit großer Palme und rotblühender sternförmiger Bepflanzung darunter dominiert den Vordergrund des Bildes, in dem zentral eine weiß gekleidete Frau und drei schwarz gekleidete Herren vereinzelt umherlaufen. Am rechten Bildrand befindet sich eine hölzerne Bude oder ein Zelt, in dem Menschen zu sitzen scheinen.
Im Gegensatz zur Darstellung des Roten Turms taucht Kirchner die Partie an der Hauptpost in eine Farbstimmung aus Grün-, Rot- und Beigegrautönen, was dem Motiv eine positivere Atmosphäre verleiht. Mit seiner komprimierten Komposition und den spitzen Formen ist es den berühmten Berliner Stadtdarstellungen wie den Gemälden „Nollendorfplatz“ (1912, Stiftung Stadtmuseum Berlin) und „Potsdamer Platz“ (1914, Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin) vergleichbar.
Weitere in Öl gemalte Ansichten der Stadt Halle (Saale) sind im Œuvre Ernst Ludwig Kirchners nicht bekannt, wohl aber hat das in Halle (Saale) Erlebte im grafischen Werk des Künstlers Spuren hinterlassen. Neben einer Partie am Zoo und einem Kalkofen, 1915 als großformatige Lithografien auf gelbem Papier gedruckt, gibt es verschiedene Szenen, die auf Kirchners kurzzeitiges Soldatenleben zurückgehen. Eindrucksvollstes Beispiel ist das „Soldatenbad“ – ein Motiv, das er 1915 nicht nur als Lithografie vervielfältigte, sondern auch als eindrucksvolles Gemälde in Blau- und Gelbtönen schuf. Es befindet sich heute im Nationalmuseum Oslo.
Die Grafische Sammlung des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale) verwahrt zudem eine Entwurfszeichnung zu diesem mit Blick auf die deutsche Geschichte im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts beklemmenden Motiv. 1916 erschien in der pazifistischen Zeitschrift „Der Bildermann“ Kirchners Lithografie „Auf dem Kasernenhof“.
Ein besonderes grafisches Blatt ist die Radierung „Maler, Soldat, Akt – Atelierszene“ aus dem Jahr 1916. Kirchner druckte das Motiv von der Platte leicht versetzt auf beide Seiten des Papiers und bezeichnete eine davon als „Probedruck“. Auf der dazu gehörenden Rückseite befindet sich der Stempel des Kunstvereins Jena, der das Blatt zur einstigen Botho-Graef-Stiftung gehörig markiert.
Nach dem plötzlichen Herzinfarkt-Tod seines Freundes Botho Graef am 9. April 1917 stellte Kirchner aus Dankbarkeit für die Unterstützung, die er von seinen Freunden in Jena seit 1914 erfahren hatte, sein gesamtes bis dahin geschaffenes druckgrafisches Werk zusammen und schenkte dieses als Botho-Graef-Stiftung dem Kunstverein Jena. Zusammen mit vielen Gemälden der Moderne ging diese einzigartige Sammlung 1937 durch die nationalsozialistische Aktion „Entartete Kunst“ verloren. Unsere Radierung erwarben wir im Jahr 2004 im Hamburger Auktionshaus Hauswedell & Nolte.
Damit spannt sich von diesem Blatt ein Bogen zurück zum Gemälde mit der Darstellung des Platzes an der Hauptpost, das 1916 vom Ehepaar Eucken erworben wurde. Irene und Rudolf Eucken lebten in Jena, wo er seit 1874 an der Alma Mater Jenensis als Professor für Philosophie lehrte. 1908 erhielt Eucken den Nobelpreis für Literatur. Irene Eucken war als Künstlerin tätig und entwarf Reformkleider. Für eine Ausstellung ihrer Arbeiten im Oktober 1916 in Bremen schuf Ernst Ludwig Kirchner fünf Holzschnitte für den 8-seitigen Katalog. Bis 1920 tauschten der Maler und die Designerin in wechselnden Abständen Briefe. Hundert Jahre später kehrt nun mit der Halle-Ansicht ein Gemälde Kirchners an die Saale zurück, das hier seinen Ursprung hat.
Dem jedoch noch nicht genug: Die neue Dauerleihgabe des Museums wird begleitet von einem zweiten Gemälde, das einen weiblichen Akt zwischen Steinen am Strand zeigt: „Badende zwischen Steinen“. Das Bild entstand 1912 und ist ein Resultat des Sommeraufenthalts von Ernst Ludwig Kirchner mit seiner Lebensgefährtin Erna Schilling (1884–1945) auf der Ostsee-Insel Fehmarn. Die nackt auf den Steinen des Ufers sitzende weibliche Gestalt ist aufgrund ihrer Physiognomie, ihres typischen roten Huts und zeitgenössischer Fotografien zweifelsfrei als Erna Schilling zu identifizieren. In den Sommermonaten der Jahre 1912 bis 1914 hielt sich Kirchner regelmäßig auf Fehmarn auf; entsprechende Motive finden sich in seinem malerischen Œuvre dieser Jahre. Sie lösen die Badeszenen an den Moritzburger Teichen aus den Dresdner Jahren ab.
Ein solches Motiv gehörte einst auch zur Sammlung des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale). „Ins Meer Schreitende“– ebenfalls aus dem Jahr 1912 – war Teil des sensationellen Ankaufs von 24 hochkarätigen expressionistischen Gemälden aus der Sammlung von Ludwig (1960–1922) und Rosy (1869–1926) Fischer aus Frankfurt am Main, der Max Sauerlandt (1880–1934) im Dezember 1924 glückte.
Zehn Jahre nach Kirchners militärisch bedingtem Aufenthalt in Halle (Saale) gelangten mit der Fischer-Sammlung sieben seiner Gemälde in das Kunstmuseum der Stadt, das damit gleichsam über Nacht bzw. über den Jahreswechsel 1924/25 über die umfangreichste öffentliche Kirchner-Sammlung verfügte. 1937 wurden alle Werke durch die Nationalsozialisten als „entartet“ beschlagnahmt. Das sehr großformatige Fehmarn-Bild „Ins Meer Schreitende“ gehört seit 1965 zur Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart. „Badende zwischen Steinen“ erinnert an die einstige herausragende Kirchner-Sammlung unseres Museums.
Mit dem Gemälde „Akte im Strandwald“ (1913) gelangte 1948 als Leihgabe des Kunsthändlers Ferdinand Möller (1882–1956) wieder ein Kirchner-Gemälde in die Sammlung des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale), das seinerseits bis 1937 zur Sammlung des Kunstmuseums Mönchengladbach gehörte. 1949 beschlagnahmten es die staatlichen Behörden. Nach der Vereinigung beider deutschen Staaten 1990 wurde das Werk 1992 an die Erben nach Ferdinand Möller restituiert und mit Unterstützung des Bundesministeriums des Inneren, der Kulturstiftung der Länder und des Landes Sachsen-Anhalt rechtmäßig angekauft. Heute ist es Teil der Sammlungspräsentation „Wege der Moderne“.
Literatur
Volker Wahl: Der expressionistische Maler Ernst Ludwig Kirchner und die Stickstube von Irene Eucken in Jena, mit einer Edition der Briefe Kirchners an Irene Eucken 1916 bis 1920, in: Die große Stadt. Das kulturhistorische Archiv von Weimar–Jena 2 (2009) 4, S. 308–334